KAPITÄN SCHWANDT: Der Brief einer Flüchtlingshelferin
Mich erreichen täglich mehrere Dutzend Nachrichten auf meiner Facebook-Seite und zahlreiche Mails an Ankerherz. Es sind hundert, so viele, dass ich gar nicht alle sofort beantworten kann – ich bitte um Verständnis, wenn es dauert oder einmal eine Nachricht verloren geht.
Die Flüchtlingshelferin Gabriele C. Woiwode schreibt:
„Tarek ist Syrer. Im Januar 2016 erhielt er die Anerkennung seines Antrags auf Asyl und einen Aufenthaltstitel für drei Jahre. Hasan aus dem Irak, eingereist im September, sitzt bis heute sinnfrei in seiner Unterkunft in einem 20.000-Seelen-Ort an der deutsch-tschechischen Grenze. Jetzt, Anfang Juni wird er einen Integrationskurs besuchen können – es gibt nicht ausreichend Lehrkräfte in seinem Ort. Nur zwei Schulen sind überhaupt akkreditiert, Integrationsunterricht zu geben. Nächste Woche hat er sein Interview – aber er wird aller Wahrscheinlichkeit aber nur noch den subsidiären Schutz bekommen, wie sein Mitbewohner Ali. Weil sie beide so lange warten mussten, bis ihr Antrag bearbeitet werden konnte.
Ich bemühe mich selbst um „Integrationsmaßnahmen“, erzähle immer wieder von unseren Grundwerten, von der Menschenwürde und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit, vom Gleichheitsgrundsatz, von Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Freizügigkeit im Bundesgebiet, Pressefreiheit, Rechtsstaatlichkeit. Was macht aus Tarek den „besseren“ Flüchtling? Wo bleibt der Gleichheitsgrundsatz, von dem ich ALLEN Flüchtlingen immer wieder erzähle? Warum ERLEBEN die Flüchtlinge nicht das, was sie doch lernen sollen in den „Integrationskursen“?
Sie wussten um diese Grundwerte. Diese Werte waren eine der Gründe, warum sie hier nach Deutschland wollten. Weil in ihrem Land nicht nur ihr Leben bedroht ist, sondern die Menschen nicht alle gleich sind, sich nicht frei äußern können, sich nicht frei bewegen können und die Religionszugehörigkeit ihre Überlebenschancen bestimmt. Was Tarek und Hasan hier in Deutschland aber real erleben – straft meine Worte Lügen und sie kennen das nur allzu gut aus ihren Heimatländern.
Der Hass in Sachsen
Sie leiden unter dem Hass der Menschen in Sachsen, der bereits damit beginnt, das sie nicht einmal nach dem Weg fragen können. Sie erhalten gar keine Antwort oder es wird ihnen tiefstem Sächsisch an den Kopf geknallt „lern doch erstmal deutsch“. Hasan spricht deutsch, er weiss sehr genau – das ist sächsisch und nicht „deutsch“. Wenn sie im Supermarkt einkaufen gehen, werden ihre Taschen kontrolliert. Sie wissen sehr gut warum. Weil sie Flüchtlinge sind, Ausländer, Muslime. Sie haben erlebt wie andere Geflüchtete krankenhausreif geprügelt wurden. Sie werden von Gruppen „besorgter Bürger“ auf der Straße verfolgt – ich habe das selbst einmal über Telefon live mit verfolgt.
Vor ihrer Unterkunft wurden Schweineköpfe mit ausgestochenen Augen und Hakenkreuzen aufgespießt. Sie wurden in ihrer Gemeinschaftsunterkunft von Nachbarn überfallen und verprügelt. Autos auf der Straße fahren hupend an ihnen vorbei, der ausgestreckte Arm mit erhobenem Mittelfinger aus dem Fenster ragend (selbst miterlebt!).
Was Hakenkreuze und ein ausgestreckter rechter Arm bedeuten, hat er hier in Sachsen schnell gelernt. Sächsische Integrationsmaßnahmen im Alltag live.
So erleben sie Deutschland. So erleben sie Religionsfreiheit, Menschenwürde und den Gleichheitsgrundsatz. Sie verstehen es nicht. Und ich habe keine Erklärung für sie. Ich hatte Tränen der Wut in meinen Augen als ich selbst mit erlebte, wie diese Menschen hier behandelt werden. Von UNS. Von uns Deutschen mit diesem Grundgesetz – mit Artikeln zu Menschenwürde, Gleichheit, Religionsfreiheit und Menschenrechten.
Tarek wollte studieren, musste deshalb aus seinem Ort in Sachsen weg, weil es dort keine Universität gibt. In Leipzig und Dresden hat er keine Unterkunft gefunden, in München hatte er ein geradezu unverschämtes Glück. Jetzt lebt er hier in einem kleinem Zimmer zur Untermiete bei einer sehr netten christlichen Familie. Er intergriert sich gut, hat kaum noch Umgang mit seinen Landsleuten, lernt Deutsch auf einer Schule und er lernt Deutschland im Alltag. MEIN Deutschland.
Hasan lebt seit acht Monaten in kleinen Gemeinden in Sachsen. Er hat keinen „Alltag“, schon gar keinen „deutschen“. Er hat Angst das Haus zu verlassen, dem Hass auf der Straße zu begegnen. Wie alle seine Mitbewohner. Einer von ihnen fragt mich nach einer Bleichcreme. Er möchte seine Haut heller machen, damit er nicht mehr so auffällt in dieser sächsischen Kleinstadt die völlig überaltert ist und in der die Menschen die Blicke abwenden oder die Straßenseite wechseln.
Wie sollen sich junge Männer um die 20 aus einem anderem Kulturkreis in eine Stadt integrieren können, in der ihnen nur alte Menschen (60+) und der blanke Hass begegnen? Muss nicht viel mehr DIESE STADT hier lernen, was Gleichheit, Menschenwürde und Integration bedeutet.
Hasan und seine Mitbewohner vegetieren zwischen Schlafen und Essen und Schlafen, haben ausschließlich Kontakt mit ihren Landsleuten – mit wem auch sonst? Hasan lernt Deutsch mit Büchern und CDs die ich ihm besorgt habe und Apps auf seinem Smartphone. Zwischendrin jedenfalls, wenn ich es schaffe, ihn aus seinen Depressionen zu reissen. Meist über Telefon, weil er sich zwar frei im Bundesgebiet bewegen, aber nirgends lange bleiben darf. Er hat in seiner Unterkunft zu bleiben und in dem Ort in den er „zugewiesen“ wurde. Wenn jetzt sein Integrationskurs beginnt, wird er selbst das nicht mehr können: In seiner Schule sind Ferien nicht vorgesehen.
Wie stehe ich da, wie steht Deutschland da, vor diesem jungem Mann aus dem Irak, in dem Menschen sich an anderen Orten auch nur begrenzt aufhalten dürfen? Er floh aus einem Land in dem er aufgrund seiner Religionszugehörigkeit nur ein Mensch zweiter Klasse war – in Deutschland ist er es wieder.
Firas lebt auf einem Dorf in Thüringen, sein Camp ist direkt neben einer Schweinezucht. Wenn die Bundesregierung jetzt die Wohnsitz-Pflicht festschreibt, in welche Gemeinschaft soll er sich dann integrieren? Welche Ausbildung soll er dort machen? Schweinezüchter? Er ist mit seiner Schwester und deren Kindern hier. Wenn sein Asylantrag durch ist, möchte er mit ihnen ein Wohnmobil mieten und durch Deutschland fahren, das Land kennenlernen. Vielleicht findet er auch irgendwo eine Moschee oder Gemeinschaft, in der er beten kann.
Mohammed hat auch Pläne für „danach“. Er möchte in die Nähe von Verwandten ziehen, endlich raus aus Sachsen und weg von der Einsamkeit hier und all dieser Ablehnung und dem Hass. Von dieser Hoffnung lebt er. Integration hätte so viele Facetten; für die deutsche Politik erschöpft es sich in Regeln und Gesetzen die wir ihnen so gerne vorhalten, selbst aber den Geflüchteten gegenüber glauben, nicht einhalten zu müssen. Sie sollen KEINE freie Wohnsitzwahl haben, sie sollen sich NICHT „frei bewegen“ dürfen, sie werden ihre Berufe NICHT frei wählen können, ihre Religion nicht ausüben und nicht wählen können, wie und mit wem sie leben möchten.
Mustafa besucht zwei Mal in der Woche einen Deutschkurs bei einer Ehrenamtlichen. Sie unterrichtet auf deutsch, erklärt was Verwandtschaftsbeziehungen sind. Eine Tante ist die Schwester der Mutter. Ich bin froh, dass Mustafa ihre Erklärungen nicht versteht – er kann lediglich unsere Sprache nicht, er ist kein Idiot. Ich höre ihn tapfer „ich bin nicht verheiratet“ herauspressen. Die Frau, die er heiraten wollte, wurde vom IS entführt und getötet. Deshalb ist er „nicht verheiratet“. Für den Rest des Tages sehe ich Mustafa nicht mehr, er hat sich in sein Bett verkrochen.
Tarek ist Betriebswirt, ein sehr intelligenter junger Mann mit guter Ausbildung und Universitätsabschluss. Aber er hat kein Talent für Sprachen; sein Deutsch und sein Englisch sind schlecht und schwer zu verstehen.
Amina kommt aus Afghanistan; ihr Mann besucht einen Deutschkurs der Stadt. Sie wollte mitkommen, aber sie hat niemanden der auf ihren kleinen Sohn aufpasst und sie darf ihn nicht mit in die Schule nehmen.
Karrar aus dem Irak ist seit neun Monaten hier, hat immer noch keinen Deutschkurs genehmigt bekommen. Er fragt mich, ob es auch Deutsch-Lehrer gibt, die ins Camp kommen – er ist durch Bomben und Geschosse vollständig gehbehindert, kann nicht laufen. Er könnte in keine Schule „gehen“.
Strafe, obwohl sie nichts dafür können.
Deutschland wird sie alle dafür bestrafen, wenn sie nicht gut genug lernen und innerhalb einer bestimmten Frist „nicht gut genug“ Deutsch sprechen können. Sie werden weniger Geld bekommen und ihr Aufenthalt wird nicht gesichert sein. In der Folge werden sie noch mehr Probleme als andere Geflüchtete haben, Arbeit oder Wohnung zu bekommen und keine Verträge abschließen können.
Alle Geflüchteten, die ich kenne, haben schlechte Zähne. Wenn sie hier überhaupt zu einem Zahnarzt gehen können, werden ihnen die Zähne gezogen oder Schmerzmittel rezeptiert. Firas hat mehrere Geschosse in einem Fuss und Bein, kann vor Schmerzen oft nicht laufen. Auch er bekommt nur Schmerzmittel verschrieben.
Auf der Straße in der sächsischen Kleinstadt treffen wir einen früheren Camp-Mitbewohner von Hasan. Er ist mit seiner Frau und seinen Kindern hier, möchte aber wieder zurück in den Irak. Seine Frau wird auf der Straße angepöbelt und angemacht, ihr wird Geld für Sex geboten. Er hat Angst davor, nicht mehr lange ruhig bleiben und sich das mit ansehen zu können, hat Angst davor irgendwann jemanden anzugreifen und zu schlagen. Seine Frau bleibt in der Unterkunft, verlässt das Haus nicht mehr, aber das ist ja so kein Leben. In den Camps wurde ihm immer wieder gepredigt, dass Frauen hier gut und respektvoll behandelt werden sollen. Aber so ein Verhalten wie hier in Deutschland (nein: hier in Sachsen!) kennt er aus seinem Heimatland nicht. So ein Benehmen wäre im Irak völlig undenkbar, dafür würde man ins Gefängnis gehen.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Bei der Vorstellung dass ihm hier jetzt auch noch eine Wohnsitzauflage droht, dreht sich mir der Magen um. Und ich kann verstehen, dass er zurück geht.
Tahsin hat letzten Monat aufgegeben, ist in den Irak zurückgekehrt. Der Hass auf seine Religionszugehörigkeit und die Angst auf die Straße zu gehen im Irak sind ihm vertrauter als der in Sachsen. Er stirbt lieber schnell durch eine Bombe mit seiner Familie in Bagdad als allein und langsam in Sachsen. Die 700 Euro Starthilfe die er vom Land Sachsen bekommen sollte, hat er nie erhalten. Er konnte sich auf dem Rückflug nicht einmal etwas zu essen oder zu trinken kaufen, kam zurück nach Hause zu seinen Kindern mit völlig leeren Händen. Und den Schulden, die er gemacht hat, um seine Flucht finanzieren zu können.
Meine Scham ist unbeschreiblich und nicht mit Worten zu beschreiben.
Jetzt also soll wieder ein neues Integrationsgesetz bekommen. Jetzt also sollen Menschen wie Tarek, Hasan, Mustafa, Ali, Mohammed, Karrar, Firas und Amira – endlich! – bestraft und sanktioniert werden können. Mit Wohnsitzauflagen weiter in einer Atmosphäre von Ablehnung, Hass und Einsamkeit leben müssen und harschen, folgenschweren Sanktionen begegnen für den Fall, dass sie unsere Sprache „nicht gut genug“ lernen.
DIESES Deutschland – ist nicht mehr mein Land!
Das ist keine Integration, das ist das Gegenteil davon. Das ist keine Menschenwürde, das ist würdeLOS. Das ist keine Freiheit, keine Freizügigkeit. Das ist keine Religionsfreiheit, keine Gleichheit von Menschen mit gleichen Rechten. Das sind überhaupt keine Rechte – nur Pflichten und Einschränkungen, Sanktionen, Maßnahmen – es sind Urteile ohne Vergehen und ohne Richter.
Das dürfen wir so nicht machen! Wir dürfen diese Menschen, die bei uns Schutz suchen nicht so behandeln, nicht so pauschalisieren und vorverurteilen.
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