SEENOTRETTER ERZÄHLEN: Fünf Freunde, verloren im Watt
Der Maitag ist mild und ruhig, doch als der Notruf eintrifft, weiß der erfahrene Vormann Wolfgang Gruben sofort: Es geht um Leben und Tod. Fünf Mädchen sind im Watt zwischen Neuharlingersiel und Spiekeroog von der Flut eingeschlossen – und das Wasser steigt weiter. Vormann Gruben erzählt seine Geschichte. Hier eine gekürzte Version aus unserem neuen Buch MAYDAY.
Manche Einsätze, in denen es um alles geht, sehen alles andere als dramatisch aus. Dann brüllt kein Sturm, kommen die Wellen nicht wie Fäuste aus Wasser, und doch steht man unter Adrenalin. Weil man einfach weiß: „Wenn ich jetzt zu spät komme, dann gibt es Tote.“ Einen solchen Fall gab es Pfingsten 2008. Ein lauer Tag Anfang Mai, knapp 18 Grad Lufttemperatur, die Sonne schien zur Mittagszeit, der Himmel tiefblau, alles soweit ruhig.
Bis dieser Anruf aus dem Watt kam.
„Papa, Papa, hilf’ uns!“ Die Mädchen schrien um Hilfe. Sie klammerten sich an einer Fahrwassertonne fest, die mit Muscheln bewachsen war. Für den Vater, der am Strand spazierte, muss es ein furchtbarer Moment gewesen sein. Ihre Position konnten die Teenager nicht durchgeben. Etwa zweieinhalb Kilometer – das sollte sich später herausstellen – waren die fünf vom Ufer entfernt, als sie bemerkten, dass die Flut auflief. Beim Muschelsuchen hatten sie sich immer weiter vom Strand entfernt und unbemerkt eine trockengelaufene Rinne – einen Priel – durchquert. Als sie irgendwann umdrehen, schnitt ihnen das auflaufende Wasser den Rückweg ab.
Seenotretter Geschichten
Die Mädchen, alle um die 14 Jahre alt, Feriengäste aus dem Landkreis Grafschaft Bentheim, trafen eine fatale Entscheidung. Die Insel Spiekeroog sah näher aus als das Festland. Sie liefen jetzt in die falsche Richtung. Was sie nicht wussten: Die Insel konnten sie auf diesem Weg nicht erreichen. In den nun wieder überflutenden Wattflächen öffneten sich die Schalen der Meeresbewohner, um Nahrung aus dem Wasser zu filtern. Für die Mädchen, die barfüßig im Watt waren, wurde jeder Schritt über die scharfkantigen Schalen zur Tortur. Immer wieder kommt es vor, dass Gäste das Watt vor den ostfriesischen Inseln unterschätzen. Das Wasser steigt schnell, die Priele laufen voll. Manche verirren sich auch, wenn Seenebel aufzieht. Leider ist häufig, zu häufig auch Leichtsinn im Spiel.
Der Notruf der Mädchen wurde von der Polizei an unsere Seenotleitung in Bremen weitergegeben, die sofort unser Seenotrettungsboot „Neuharlingersiel“ alarmierte. Beim Einsatz begleitete mich Rettungsmann Peter Henning, ein großgewachsener, starker Kerl, und ich wusste, dass sich auch „Christoph 26“ auf den Weg machte, ein Rettungshubschrauber, der in Wilhelmshaven stationiert ist. Wir waren nur zu zweit an Bord, denn wir beiden waren in weniger als fünf Minuten am Boot gewesen und klar zum Auslaufen. Wir mussten schnell sein. Die Nordsee hat nur um die elf Grad in dieser Jahreszeit.
Ich hatte wirklich Angst, dass wir zu spät kommen könnten.
Wir wussten nicht, um welche Tonne es sich handelte. Das Wasser war schon ziemlich aufgelaufen. Ich prüfte auf der Seekarte, wo genau sich die Markierungen des Fahrwassers befanden, und steuerte sie eine nach der anderen an. An der fünften sahen wir die Mädchen: Die Nordsee stand ihnen bis zum Oberkörper, die Strömung war stark. Verzweifelt hielten sie sich fest, mit Armen und Beinen. Die Tonne aber war mit Muscheln bewachsen, sogenannten Seepocken, deren Oberfläche scharfe Kanten hat. Jeder, der einmal am Strand das Pech hatte, in eine mit Seepocken bewachsene Muschel zu treten, weiß, wovon ich spreche.
Verloren im Watt
Alle Mädchen hatten Schnittwunden, einige ziemlich tief, und ein Mädchen blutete stark. Als wir sie an Bord der „Neuharlingersiel“ hatten und sie sahen, wie sich das Deck rot färbte, weinte sie schlimm. Da waren Peter und ich auch als Psychiater gefragt. Wir haben ihnen gut zugeredet und ihnen Mut gemacht und die Wunden, so gut wir konnten, versorgt. Dann schickte ich über Funk den Hubschrauber wieder weg, eine Rettung aus der Luft war nicht mehr nötig.
Mit allem, was die „Neuharlingersiel“ hergab, rasten wir zurück in unseren kleinen Hafen. Krankenwagen warteten schon, Notärzte kümmerten sich, und die unterkühlten Mädchen kamen ins Krankenhaus. Eine musste dort bleiben, weil die Schnittverletzungen doch recht gravierend waren. Die Teenager standen außerdem unter Schock. Ich schätze, dass sie fünf Minuten später ertrunken wären.
Dankbarkeit ist so eine Sache, man erlebt alles, vom überbordenden Dank bis zum leisen Schweigen. Worüber ich mich gefreut habe, war ein orangefarbenes Fotoalbum, das mir die Mädchen schenkten. Teresa, Lea, Lena, Jana und Nele. „Zur Erinnerung an die Rettungsaktion der Wattwürmer“, schrieben sie drauf, und gewidmet war es „unseren Schutzengeln“.
Wolfgang Gruben, Jahrgang 1940, kam in Neuharlingersiel auf die Welt. Wie viele Männer im Ort und in seiner Familie wurde er Fischer und fuhr auf Trawlern hinauf bis zu den Shetlandinseln und nach Norwegen. 1963 machte er sein Kapitänspatent, heuerte bei der Spiekeroog-Reederei an und arbeitet seit 1969 ehrenamtlich für die Seenotretter, seit 1998 ist er Vormann. Für seine Verdienste erhielt er das Bundesverdienstkreuz am Bande. „Wer die stürmische See kennt, weiß wie viel Mut und Können nötig sind, um im Notfall Menschen zu retten“, hieß es in der Laudatio. „Wer sich da raus wagt, setzt sein eigenes Leben aufs Spiel, um anderen zu helfen. Dem gebührt allerhöchste Anerkennung. Und kaum jemand weiß, dass das zum Großteil ehrenamtlich läuft.“ Wolfgang Gruben lebt in seinem Heimatort
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