ANKERSCHMERZ, Straßengeschichten: Drinnen und Draußen
Die Augen gehen auf und ich blicke durch das Fenster in den grauen Himmel. Ich drehe mich noch einmal um und schlafe weiter. Im T-Shirt und kurzer Hose steige ich in meine Hausschuhe und mache mir ein gutes Frühstück, mit Lachsbrötchen in der Hand lese ich die Zeitung. Ich schlendere in Schlappen ins Bad. Unter der warmen Dusche denke ich drüber, wie es früher einmal war.
Nichts davon hätte ich auf der Straße tun können.
Die Zeitung, die ich heute lese, war früher ein wichtiges Werkzeug. Not macht erfinderisch. Ich benutzte das Papier als Unterlage oder Serviette, als Feueranzünder oder Klopapier. Menschen sind Überlebenskünstler.
Menschen sind Gewohnheitstiere
Ich kann im Dreck und Gestank liegen, es stört mich nicht. Ich bin es gewohnt. Menschen sind Gewohnheitstiere. Sie können sich selbst daran gewöhnen, wie Tiere zu leben.
Unter der Woche gehe ich Vormittags in die Schule. Am Nachmittag schreibe ich oder mache Vereinsarbeit für „Hanseatic Help“. Ich gehe zum Sport, danach setze ich mich wieder an die Texte. Im Alltag geht vieles unter. Dabei will ich nicht vergessen, woher ich komme. Es ist nicht selbstverständlich, dass ich hier bin. Letzte Woche bot mir eine gute Erinnerung daran. Ich hatte die Wohnung verlassen und noch auf den Treppen bemerkt, dass ich den Schlüssel vergessen hatte. Ich sackte innerlich zusammen. Keinen Schlüssel in der Tasche zu haben – da fehlt etwas. Es bleibt ein beschissenes Gefühl. Ich wollte einfach rein.
Drinnen und Draußen
Für einen kurze Moment war DRINNEN wieder weit weg. Ich stand DRAUßEN und machte das, womit ich mich auf der Straße am meisten beschäftigte: Ich suchte nach einem Ausweg.
Mein Ersatzschlüssel liegt bei einer Freundin, die letzte Woche auf Seminarfahrt war. Der einfachste Weg wurde es schon mal nicht. Zum Glück hatte ich ein Fenster offen stehen lassen. Das war mein Eingang!
Rettung über die Leiter
Im Erdgeschoss wohnen Uwe und Rita. Wir halten unseren Schnack im Treppenhaus und schauen manchmal gemeinsam Fußball. Uwe fuhr sein Auto aus der Garage und gab mir seine Leiter. Mit einem Fuß stand ich auf der obersten Sprosse, mit dem anderen Bein hielt ich das Gleichgewicht. Ich musste mich abstoßen und mit einem Sprung landete ich auf dem Fenstersims. Sekunden später war ich wieder in Wohnung – und unglaublich froh. Ich weiß nicht, ob ihr das verstehen könnt, doch ich war für diese Zeit ohne Schlüssel innerlich aufgewühlt.
Inzwischen ist es Nachmittag und ich habe Zeit, nachzudenken. Auf der Straße gibt es das nicht. DRAUßEN war ich rastlos. Hier DRINNEN habe ich meine Ruhe.
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