Kein Mitleid mit Schimanski

KEIN MITLEID MIT SCHIMANSKI

Am 19. Juni 2016 starb der große Schauspieler Götz George. Unsterblich wurde er in der Rolle des Kommissars Horst Schimanski, der sich fluchend und prügelnd durch die Industriekulissen im Duisburg der 1980er-Jahre bewegte. Bis zu 15 Millionen Menschen schalteten damals den „Tatort“ ein. Der folgende Text ist ein Auszug aus unserm Buch „Colt Seavers, Alf & Ich“, in dem sich 20 Autoren an die Fernsehhelden ihrer Kindheit erinnern. Eine Reise in die 1980er Jahre. Das Buch gibt es HIER.

Text: Rebecca Niazi-Shahabi /// Illustration: Henning Weskamp

 

„Heike zeigte auf das Titelblatt des Stern. Meine Freundin und ich warteten wie jeden Morgen unter der Woche auf den Schulbus, und um uns die Zeit zu vertreiben, studierten wir die Auslage des Kiosks neben der Haltestelle.

„Den“, sagte Heike, „finde ich irre süß.“

Ich starrte auf das Magazin, auf dem ein Mann mit ausgewaschenen Jeans und nacktem Oberkörper abgebildet war. Grotesk breite Schultern, behaart, Schnurrbart, Heike hätte, in meinen Augen, genauso gut auf das Bild eines Schimpansen deuten können. Meine ein Jahr ältere Freundin, eine Fremde. Im Bus erzählte sie mir begeistert von Schimanskis letztem Fall, den sie gestern Abend im Fernsehen gesehen hatte. Gleich am Anfang habe man seine nackte, durchtrainierte Brust gesehen, das wäre irre gewesen, und dann seine lässige Art.

Ich hatte an dem Abend Simon and Garfunkel gehört und ein Foto aus einer Zeitschrift abgezeichnet, und ich spürte, dass ich drauf und dran war, den Anschluss zu verlieren.

Bergfreie. Illustration aus unserem Buch „Zechenkinder“ über die Kumpel des Ruhrgebiets.

 

Heike war den nächsten Schritt gegangen, ohne mir etwas davon zu sagen, sie war nun kein Mädchen mehr, sie war eine Frau. Eine Frau, die ich nicht verstand und die sich für Männer interessierte, die fast dreimal so alt waren wie sie selbst.
Auf dem Schulhof in der Pause unterhielten sich die Frauen über „Schimmi“, die wenigen Mädchen saßen alleine auf den Bänken und aßen ihr Pausenbrot. Ich gehörte weder zu den einen noch zu den anderen. Bei den Frauen machten Zigaretten die Runde und wurden kichernd ausgetreten, wenn ein Lehrer vorbeikam, die Mädchen klopften sich sorgfältig die Krümel aus ihren Jacken und gingen wieder in die Klassenräume zurück, noch bevor es zum Ende der Pause läutete.

Am Abend fragte ich meine Mutter, wie sie zu dem Mann auf dem Titelblatt stand.

„Götz George?“, fragte sie. „Toller Typ.“

Meine Mutter also auch.

Schimanski und die Frauen

Sie grinste meinen Stiefvater an, als habe sie etwas Verwegenes gesagt, mir gefiel das nicht, ihm auch nicht. Ich ging in mein Zimmer. Auf dem Schreibtisch lag die unfertige Zeichnung von gestern Abend. Heute hatte ich eigentlich daran weiterzeichnen wollen. Ich nahm das Foto und warf es in den Mülleimer. Ich musste herausfinden, was an diesem Mann die Frauen so faszinierte.

Mein erster Tatort mit Götz George: Horst Schimanski hockt hinter irgendeiner Telefonzelle in Duisburg und überwacht den Hauseingang eines Verdächtigen, als ein Windstoß durch seine halblangen Haare fährt. Plötzlich hatte ich eine Idee, wie seine Anziehungskraft zustande kam: Die hässliche Jacke, der Schnurrbart und die doofe Frisur – die Frauen hatten Mitleid mit ihm! Und natürlich fanden sie ihn auch gut, um zu provozieren; die Vorstellung, dass man eines Tages mit einem wie ihm nach Hause kam und Eltern, Geschwister und Freunde entsetzt fragten: Mit dem? Wo hast du den überhaupt kennengelernt?

Unsterblich: Götz George als Tatort-Kommissar Horst Schimanski. /// Illustration: Henning Weskamp

 

Als Nächstes sah ich die Wiederholung des ersten Schimanski-„Tatorts“ „Duisburg-Ruhrort“. Schimanski verlässt nach zwei rohen Eiern zum Frühstück seine Wohnung und überquert die Straße im Arbeiterviertel Duisburg-Wanheim, und mit einem Mal vergaß ich, dass ich vor dem Fernseher saß.

Ich sitze mit Schimanski in der Kneipe gegenüber, er telefoniert, kaut dabei ein Brötchen, man versteht ihn nicht – und das gefiel meiner Mutter, die meinen Stiefvater ständig ermahnte, er solle beim Essen nicht so schlingen? –, er wiederholt gereizt den Namen der Kneipe, und ich begreife das Ungeheuerliche: Dies ist Schimanskis Stammlokal und er ruft auf der Arbeit an.

Schimanski in der Kneipe. Wo sonst?

Ich betrete mit Schimanski die chaotische Wohnung eines Mannes, der von seiner Frau verlassen wurde und nun mit seinen beiden Kindern alleine fertigwerden muss. Ich wundere mich, wie man so arm sein und trotzdem so viele Sachen besitzen kann, dass man nicht weiß, wo man sie hinräumen soll, es kommt mir nicht in den Sinn, dass es sich nicht um eine echte Wohnung handeln könnte.

Mit Schimanski sitze ich mit Frau Popinga am Vormittag auf dem Sofa vor dem kleinen Aquarium. „Eins noch?“, fragt sie und holt ihm und sich noch ein Bier aus der Küche. Nur wenige Minuten später wirft sie ihn aus der Wohnung, als sie versteht, dass Schimanski ihren Mann des Mordes verdächtigt und sie aushorchen will: Ihren Mann, den verrät sie nicht, auch wenn er sie einen Tag zuvor verprügelt hat.

(…)

Heute kann man sich die alten „Tatorte“ mit Götz George auf YouTube anschauen. Mir gefallen sie sogar noch besser als früher. Steht Schimanski morgens in seinem zugemüllten Wohnzimmer vom Sofa auf, fegt dabei ein paar leere Bierdosen vom Couchtisch und zieht sich einen hässlichen Pullover über seine Brust, ohne sich zu duschen, muss ich nicht mehr überlegen, ob ich mit so einem Mann zusammenleben könnte. Erwacht er in einem fremden Bett und wundert sich, wie er dahin gekommen ist und fragt die Frau, die plötzlich neben dem Bett steht: „Haben wir – oder haben wir nicht?“, dann läuft mir kein Schauer über den Rücken.

Und ich muss mich auch nicht mehr fragen, ob mit mir vielleicht etwas nicht in Ordnung ist, weil ich Muskeln und Schnauzer nicht so „irre“ finde wie Heike damals.

Heute kann ich alles an Horst Schimanski toll finden.

Der Text über Schimanski ist stark gekürzt – Auszug aus unserem Buch „Colt Seavers, Alf & Ich“. Eine Hommage an die Fernseh-Helden der 1980er Jahre und unsere Jugend.

0 comments