Gegen die Wut: der tote Eisbär von Spitzbergen

Ein Eisbär hat ein Crewmitglied des Kreuzfahrtschiffes „Bremen“ bei einem Landgang angegriffen und schwer verletzt. Danach wurde das Tier erschossen, „in Notwehr“, wie die Reederei Hapag-Lloyd Cruises mitteilte. Das Foto des getöteten Eisbärs geht nun um die Welt, und es sorgt besonders in den Sozialen Medien für Empörung und leider auch für Ausbrüche von Hass.

Der britische Komiker Ricky Gervais twitterte: „Lasst uns einem Eisbären in seiner natürlichen Umgebung zu nahe kommen und ihn dann töten, wenn er uns zu nahe kommt‘. Idioten.“ Andere forderten, den „Wahnsinn der Kreuzfahrtindustrie“ zu beenden. Manche gehen in ihrer Hysterie so weit, dem verletzten Crewmitglied den Tod zu wünschen.

Der tote Eisbär und die Welle aus Wut

Auf diesen Schwachsinn möchte ich gar nicht eingehen. Doch aus eigener Erfahrung einen Versuch unternehmen, die Ereignisse in der Welle aus Wut einzuordnen. Hass und Wut helfen selten weiter, und auch in diesem Fall können ein paar Fakten oder Beobachtungen aus erster Hand kaum schaden.

 

Vor einigen Jahren waren der Fotograf Andree Kaiser und ich für eine Reportage auf Spitzbergen. Der erste Spaziergang gleich nach der Landung endete wenige Meter Meter vor dem Hotel in der Hauptstadt Longyearbyen– der freundliche Mitarbeiter wies darauf hin, dass ein Eisbär in der Nachbarschaft gesichtet worden waren.

„Nur mit Gewehr oder in Begleitung eines bewaffneten Guides dürft Ihr das Hotel verlassen“, sagte er.

Wir blieben dann mangels eines Gewehrs in der Hotelbar.

Der Vorwurf an die Reederei, in die „natürliche Umgebung“ des Wildtieres eingedrungen zu sein, ist nicht richtig. Eisbären gibt es auf Spitzbergen überall. Die Tiere suchen auf der Suche nach Nahrung immer wieder die Nähe des Menschen.

Unsere Reise auf Spitzbergen führte auf einem alten Postschiff  namens „Nordstjernen“ durch die Inselwelt des Archipels. Das Schiff stoppte mitten im Nirgendwo an einer Insel, und wir trafen Wissenschaftler, die Kontakt mit einem Eisbären hatten. Hier ein Auszug aus der Reportage von damals.

Villa Oxford – 79° 37 N, 14°08’ O

Kaliber 7,62, sechs Kugeln im Magazin, eine im Lauf. Vor jedem Landgang lädt Jonas Ellehauge sein Gewehr. „Reine Vorsicht“, erklärt der Expeditionsleiter. Jonas ist ein blonder Kerl Mitte 30, der in seiner Freizeit Unterwasserrugby spielt, vom Lachen Falten um die Augen bekam und in der Damenwelt von Longyearbyen als die Antwort Spitzbergens auf Brad Pitt gilt. Bevor die Passagiere aus den Booten steigen, teilt Jonas sie in Gruppen, die von einem bewaffneten Guide angeführt werden. Alle Gruppenleiter stehen mit Walkie-Talkies in Kontakt und beobachten durch Ferngläser das weite, wüste Land. Angriffe von Eisbären auf Touristen wurden zwar noch nie dokumentiert, aber es gilt, sich zu wappnen. Falls doch ein tonnenschweres Raubtier mit Tempo 60 attackiert, bleibt wenig Zeit.

Die Gruppe von Jonas spaziert durch die arktische Tundra. An einigen Stellen bedecken Teppiche aus arktischen Blumen den Boden; etwa 170 hart gesottene Pflanzenarten überleben auf Svalbard. Das Eigenartige aber fällt einem nach einigen Minuten an Land auf: Es riecht nach Nichts. Nicht nach Wiese, nicht nach Blumen, nicht nach Erde. Es riecht nach gar nichts auf Spitzbergen. Höchstens nach dem Rasierwasser des Mitreisenden, der vor einem geht.

 

In der Nähe des Strands trifft Jonas drei Forscher in einer kleinen Holzhütte, der Name „Villa Oxford“, wie eine Inschrift aus Stöcken über der Tür verrät. Die „Villa“ ist nicht ganz so groß wie eine Garage, verfügt über drei Schlafgelegenheiten und eine provisorische Küche; die Tür lässt sich von innen doppelt verriegeln. Was sinnvoll zu sein scheint, denn man erkennt die breite, tiefe Kratzspur einer Bärentatze im Holz.

Geir und Lennart, ein Professor und ein Doktor der Universität Tromsö haben die Hütte vor einer Woche bezogen, um die Verbreitung einer Blume zu untersuchen. Sie wollen noch 14 Tage bleiben. Studentin Kjersti geht heute wieder an Bord der „Nordstjernen.“. Die Wissenschaftler wirken etwas mitgenommen, was man versteht, als sie Jonas vom Besuch des Vorabends erzählen.

Der Eisbär nahm Witterung auf

Sie saßen gerade beim Abendbrot am Feuer, als sie einen Eisbären entdeckten, der auf der anderen Seite der Bucht den Strand ansteuerte. Sie beobachteten, wie er in einiger Entfernung die Bucht durchschwamm. Dann bemerkten sie, dass der Bär erneut Witterung aufnahm – und genau auf ihre Blockhütte zu lief. Als er noch ein paar hundert Meter entfernt war, schossen die Männer Leuchtspurmunition in den Himmel. Was den Bären zwar interessierte, aber wenig beeindruckte.

Die Blumenforscher legten nun ihre Gewehre an, um Warnschüsse anzugeben. Eisbären stehen unter strengstem Naturschutz und dürfen nur in Notwehrsituationen getötet werden; wird ein Tier erlegt, folgt eine sehr genaue Untersuchung der norwegischen Behörden. Erst nach dem dritten Schuss in die Luft blieb der Eisbär stehen, drehte um und verschwand schließlich hinter dem nächsten Hügel.

„Habt ihr ein mulmiges Gefühl?“, fragt Jonas, „heute Nacht?“

„Wir werden bestimmt  wach, wenn er versucht, durch die Tür zu kommen“, meint Geir. Er reinigt gerade sein Gewehr.

Studentin Kjersti sieht ziemlich erleichtert aus, als sie an Bord des Zodiacs steigt.

 

Auf der „Nordstjernen“ gab es strengste Sicherheitsvorkehrungen. Die norwegischen Behörden nehmen den Schutz der Eisbären sehr genau – und sie werden den Unfall mit der „Bremen“ genauestens untersuchen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine renommierte Reederei wie Hapag-Lloyd Cruises leichtsinnig handelte. Das verletzte Crewmitglied war ein „Eisbären-Guide“, der für solche Situationen ausgebildet wurde. (An dieser Stelle wünschen wir übrigens gute Genesung.)

Der Mensch ist ein Beutetier

Eisbären sind die mächtigsten Wildtiere. Sie sind extrem schnell und wiegen bis zu 500 Kilo. Es ist schwer, sie zu stoppen. Anders als für andere Bärenarten gehört der Mensch zum Beuteschema. Es sind keine Großwildjäger, die eine solche Kreuzfahrt in die Arktis antreten, sondern Menschen, die Natur lieben. Warum sollten sie es nicht tun? Ihre Fotos und Berichte erzählen von einem Lebensraum, den wir schützen sollten. Dass diese Reise teuer ist, wie in manchen Beiträgen spitz bemerkt ist – was spielt das für die Bewertung des Vorfalls für eine Rolle? Und natürlich muss eine solche Reise Geld kosten. Oder möchte jemand ernsthaft Massentourismus in diese sensiblen Schutzräume fördern?

Die Reederei bedauert die Ereignisse sehr, wie jeder, der die Natur liebt. Warum es der Auslöser für Hass und Wut sein muss? Das ist wohl die Welt der „Sozialen Medien“ 2018.

 

Stefan Kruecken, Jahrgang 1975, leitet mit seiner Frau Julia den von ihnen gegründeten Ankerherz Verlag. Vor der Gründung des Verlags arbeitete er viele Jahre lang als Reporter für Magazine wie max, Stern oder GQ.

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