Ehrenamt: Vom Mut, für andere Menschen in den Sturm zu gehen
Knapp dreißig Millionen Menschen in Deutschland üben ein Ehrenamt aus. Sie machen das Leben in unserem Land schöner. Sie kümmern sich einfach. Einige Ehrenamtler fahren sogar für andere Menschen raus in den Sturm.
Knapp eintausend Seenotretter sind in 55 Stationen entlang von Nordsee und Ostsee rund um die Uhr um Einsatz. Von diesen eintausend sind zweihundert Hauptamtler, in der Regel Berufsseeleute. Der größte Teil aber, knapp achthundert, übt ein Ehrenamt aus. Bürger, die ganz normale Berufe haben, und in ihrer Freizeit in den roten Overall schlüpfen. Menschen, die bereit sind, im Ernstfall alles für andere in Seenot zu riskieren.
Wir erzählen stellvertretend für sie die Geschichte von Detlev Sass. Ein Kapitel aus unserem Buch „Mayday„, mit denen wir den Helden des Alltags ein Denkmal setzen möchten.
„An den Arbeitstagen der Woche war ich Finanzbeamter, wie man sich einen Finanzbeamten vorstellt: mit Anzug und Krawatte, als Vorsteher des Amtes Neumünster. An den Wochenenden trug ich den roten Overall der Seenotretter. Dann wurde aus dem Regierungsdirektor Detlev Sass Seenotretter »Dedel«. Heute bin ich zwar pensioniert, doch als Vormann der Station Schilksee war ich bis zum Frühjahr 2017 noch immer im Dienst, als einer von 25 Freiwilligen unserer Station. Ein Ehrenamt.
»Wen haben Sie denn diesmal am Wochenende gerettet?«, fragten mich früher die Kollegen im Amt, die fanden das witzig. Der Kontrast könnte ja auch kaum größer sein: von der Amtsstube mit knapp 150 Mitarbeitern und einem Prüfungssteuervolumen von einigen 100 Millionen Euro auf das Rettungsboot.
Ich liebe das Meer
Unsere Station Schilksee liegt am westlichen Ausgang der Kieler Förde. 1972 hat man sie anlässlich der Olympischen Spiele gegründet. Unser Revier erstreckt sich über die Innen- und Außenförde mit der Strander Bucht, den Untiefen Stollergrund und Gabelsflach bis zum östlichen Eingang der Eckernförder Bucht. Dass wir reichlich zu tun haben, ist nicht übertrieben: Knapp 5000 Sportboote und Jachten liegen im Revier; hinzu kommen die Fähren, die nach Skandinavien gehen, die Frachtschiffe, die den Nord-Ostsee-Kanal ansteuern und immer mehr Kreuzfahrtschiffe. Allein den Nord-Ostsee-Kanal passieren laut Wasser- und Schifffahrtsamt Kiel-Holtenau im Jahr weit über 30 000 Handels- und Sportschiffe.
Ich liebe das Meer. Ich genieße es, draußen auf dem Wasser zu sein. Schon früh habe ich das Segeln gelernt, und ich spielte mit dem Gedanken, Seemann zu werden, doch meine Mutter wehrte sich dagegen. Mein Vater war als U-Boot-Kommandant im Krieg geblieben. Einen Seemann verlieren? Nein, das wollte sie nicht. So entsprach ich ihrem Wunsch, studierte zunächst Jura, lernte statt Nautik Verwaltungsrecht und wurde Kapitän eines Finanzamtes. Ich bin meinem Arbeitgeber und meiner Familie dankbar, dass sie mein Engagement in den vielen Jahren immer unterstützt haben. Wenn die Partnerin oder der Partner nicht mitzieht, können wir unsere Aufgaben nicht erfüllen. Rund um die Uhr war ich per Alarm-Pieper erreichbar und hätte im Notfall auch aus der Amtsstube direkt an Bord beordert werden können.
Das Schönste am Ehrenamt ist, jemanden zu retten
Durch den Segelsport kam ich in den 1970er-Jahren mit den Seenotrettern in Kontakt. Mir gefielen die Gemeinschaft und der Gedanke, etwas Sinnvolles zu tun. Wie viele Einsätze im Laufe der Jahrzehnte zusammengekommen sind, das kann ich nicht sagen. Spektakuläre Fahrten waren dabei: Einmal mussten wir raus, als in einem schweren Sturm mehrere Jachten in der Bucht Notrufe absetzten. Ich schätzte die Wellenhöhe auf knapp fünf Meter, wir fuhren im »Verschlusszustand« und erlebten schwere Grundseen.
Für mich ist es am schönsten, jemanden aus Seenot zu befreien. Jemandem die Hand zu reichen, der Hilfe in einer Ausnahmesituation braucht. Darum geht es doch. Zu den schlimmsten Stunden gehören Zweifel, ob man schnell genug am Einsatzort war. Schwere Unglücke, besonders mit Kindern, haben mich sehr beschäftigt. Ich habe selber vier Kinder.
Kein normaler Einsatz
An einem Abend wurde ein Angelbootunfall gemeldet. Die See war ganz glatt, ruhiges Wetter, es war nur etwas schummrig. Der Vollmond ging auf und tauchte die Ostsee in silbernes Licht, als wir mit der Suche begannen, doch romantisch war es überhaupt nicht.
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Das Boot der verunglückten Angler hatten wir rasch gefunden. Es lag in etwa zwei Metern Wassertiefe, Teile der Angelausrüstung und Eimer trieben auf der Ostsee. Und am Grund ein Stück Persenning, wie ich dachte, ein gelbes Stück Plastik. Oder war es eine Regenjacke? Ich langte vorsichtig mit dem Bootshaken danach. Ein Schreck fuhr mir in die Knochen, es traf mich wie ein Schlag in der Furchtbarkeit des Moments. Es war ein Junge. Elf Jahre alt, er war tot. Wir brachten ihn an Land, wo man den Leichnam im Rettungswagen davonfuhr. Das Bild hat mich noch lange beschäftigt, und auch der Gedanke, wie verantwortungslos es ist, mit einem Kind ohne Rettungsweste zum Angeln auf die Ostsee hinauszufahren.
Der nächste Einsatz ist wie ein Trost
Was uns allen half, mit solchen Erfahrungen umzugehen, war die Gemeinschaft. Wir haben viel miteinander geredet, im Wachraum auf der Station. Wir haben so lange miteinander geschnackt, bis der Druck im Kopf und auf dem Herzen weg war. Die Gesellschaft bietet auch eine Stresstherapie an, sicherlich ein gutes Angebot, doch noch mehr hat die Kameradschaft geholfen. Einmal retteten wir einen Segler, einen jungen Mann, Mitte 30, der mit seiner Jolle vor dem Wellenbrecher der Hafeneinfahrt gekentert war. Es war Rettung im letzten Augenblick, dachten wir, denn ein Notarzt konnte den Verunglückten reanimieren. In der Klinik ist er dann aber wenig später verstorben. Auch solche Nachrichten mussten wir verarbeiten. Es war gut, zum nächsten Einsatz hinausfahren zu können.
Lange warten müssen wir darauf in Schilksee nie.
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