Kapitäne erzählen: Monsterwelle im Sturm vor Grönland
Monsterwelle. Karl Friedhelm von Staa ist ein erfahrener Trawlerkapitän. In einem Orkan vor Grönland zerschlägt eine gewaltige See das Brückenfenster seines Trawlers. Gekürzter Auszug aus unserem Buch Kapitäne.
Als ich diese Welle sehe, ist es zu spät. Ich kann nicht reagieren. Ich kann nichts mehr tun.
Die Monsterwelle ist fünfundzwanzig Meter hoch, vielleicht ist sie auch höher, schwer zu sagen. Sie ist jedenfalls deutlich größer als die anderen großen Seen, die seit vielen Stunden auf unseren Trawler zurollen. Wir sind vor der Ostküste Grönlands und Gefangene in diesem Sturm. Seit zwei Tagen kommt er mit Windstärke zwölf und mehr aus Nordost.
„Piteraq“, so nennen die Inuit einen außergewöhnlichen starken Orkan. Dieser Wind tritt an der ostgrönländischen Küste auf. Beim Piteraq handelt es sich um einen sogenannten katabatischen Wind. Das Wort Piteraq stammt aus der Grönländischen Sprache. Es bedeutet so viel wie: „Das, was einen überfällt“.
Der Einschlag der Monsterwelle
In seinem solchen Piteraq stecken wir nun. Wie ein gewaltiges Gebläse peitscht er die kalte Luft über das Inlandeis Grönlands an die Ostküste. Der Windmesser an Bord zeigt einen Mittelwind 194 Stundenkilometern. In Böen messen wir 216. (…)
Von meinem Sohn Sascha, Erster Offizier an Bord unseres Trawlers und Wachhabender auf der Brücke in der Nacht, habe ich an diesem Morgen die Wache übernommen. Unser Schiff ist 66 Meter lang und 12.60 Meter breit, hochmodern ausgerüstet.„Einige richtige Koffer unterwegs“, hatte Sascha bei der Ablösung gesagt. Obwohl wir weit östlich von der Fischkante in der Tiefsee gegenan liegen, um die gefährlich hohen und spitzen Wellenberge in dem relativ flachen Bankgewässer zu vermeiden. Die Sichtweite: keine 100 Meter. Er wirkte erschöpft.
Es ist anstrengend, den Trawler in diesem Wetter zu steuern. Besonders in der Dunkelheit. Man sitzt im Stuhl, der an das Model in einer Zahnarztpraxis erinnert und starrt auf das Radar. Kaffee ist wichtig in diesen Stunden. Kaffee hält wach. Man hält das Schiff steuerfähig und mit dem Joystick wird der Kompasskurs gehalten und hofft, dass kein Growler oder Eisberg vor den Steven kommt.
Die Crew schläft in diesem Wetter, liegt in den Kojen oder sieht fern. Nur die Wachhabenden und das Kombüsenpersonal sind auf ihren Stationen. Es ist schwer möglich, sich auf den Beinen zu halten. Unruhe gibt es dennoch keine an Bord. Erfahrende Fischer. Jeder weiß, was kommt, wenn man im Spätherbst vor Ost-Grönland arbeitet. Das ist Alltag.
Einschlag der Monsterwelle
Bislang jedenfalls. Diese Welle. Ich halte mich im Jagdsitz fest, wie der Kapitänsstuhl heißt.
Es ist der 17. November 2002, 09:20 Bordzeit. Unsere Position 62°07’N 039°06’W.
Ich ducke mich und warte auf den Einschlag.
Ein Knall!
Die Scheibe aus Sicherheitsglas, die in den Stahl eingelassen ist, fliegt durch den Druck des Wassers raus. Sie zersplittert nicht in ihre Einzelteile, was mir das Leben rettet. Sie wird aus dem Rahmen gedrückt, fliegt fünfzig Zentimeteran mir vorbei und bohrt sich mit der Seite fausttief in den Stahl der Brückenwand hinter mir. Ich habe ein solches Glück, dass sie mich verfehlt. Sonst gäbe es diese Geschichte nicht.
Ich bekomme keine Luft. Wind mit 200 Stundenkilometern nimmt mir buchstäblich den Atem und drückt mich in den Stuhl. Wasser auf der Brücke, viel Wasser, anderthalb Meter hoch steht es. Ich kann mich heute nicht mehr daran erinnern, woran genau ich dachte. Ob ich überhaupt etwas dachte. In solchen Momenten übernimmt der Instinkt oder der Wille, überleben zu wollen. Ich muss versuchen, aus dem Stuhl rauszukommen und den Trawler vor die See drehen, bevor der nächste Einschlag kommt. Alle elektrischen Geräte fallen in nur kurzen Zeitabständen aus.
Dies ist die bedrohlichste Situation, seit ich auf See bin.
Mein Sohn und der Bestman versuchen, die ein Deck tiefer liegende Brückentüre zu öffnen, um nach mir zu sehen. Viel Hoffnung haben sie nicht, mich noch lebend anzutreffen. Mit äußerster Kraftanstrengung stemmen sie sich gemeinsam gegen die Tür. Es gelingt, sie gegen den Druck des Windes und des herabströmende Seewassers zu öffnen.
Ich ziehe mich an den Armlehnen nach unten. Unter dem Brückenpult finde ich Schutz. Das Brüllen des Sturms dringt herein. Es ist eiskalt. Das Wasser, das auf der Brücke steht, hat null Grad. Die Instrumente sind nun allesamt tot, bis auf die Handsteuerung,doch das Schiff bleibt auf Kurs. Wir sind eine erfahrene Crew. In der Maschine hat der Chief mitbekommen, dass etwas nicht stimmt. Nach dem schweren Seeschlag schaltete er die Brückenelektronik in die Maschine um. Somit war die Gefahr von Kurzschlüssen auf der Brücke vorerst gebannt. Unser Trawler wird nun aus dem Maschinenraum gefahren.
Schnell raus aus dem Wind!
Auf der Brücke gibt es eine batteriebetriebene Nottelefon-Anlage, die im Brückenpult, direkt am Jagdsitz platziert ist.Eine direkte Verbindung in den Maschinenraum. Mein Erster Offizier steht nun neben mir und übernimmt per Nottelefon die Kommunikation mit dem Maschinenleitstand, während ich das Handruder bediene. Die Notrudersteuerung im Maschinenraum ist von einem Matrosen und dem Zweiten Offizier besetzt. Wir schreien uns an. Sonst können wir uns im Brüllen des Sturms nicht hören. Es ist auch schwierig, Luft zu bekommen.
Wir müssen das Schiff möglichst schnell aus dem Wind und den Wellen herauszubekommen. Die Gefahr, dass noch mehr Wasser in die offene Brücke eindringt, ist einfach zu groß. Knapp vier, vielleicht fünf Minuten wird das Manöver dauern. Höchste Gefahr für den Trawler, denn in dieser Zeit liegen wir quer zur See und sind den Schlägen der Brecher schutzlos ausgeliefert.
Wird noch eine solche Monsterwelle anrollen? Das wäre das Ende. Uns bleibt keine andere Wahl.
Langsam dreht der Trawler, von Hand gesteuert. Ich beobachte das Grau und die Sturmseen. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Wir bekommen in einigen Momenten Schlagseite, starke Schlagseite. Ich fürchte, dass wir zu viel Wasser an Deck nehmen über die Heckslippe, über die wir sonst den Fang an Deck ziehen. So viel, dass es nicht durch die Speigatten ablaufen kann.
Rettung Reykjavik
Wir fahren nun mit dem Wind und Wellen, was die Lage etwas beruhigt. Doch wir müssen das Loch verschließen, wo früher das Fenster war. Eine so große Ersatzscheibe ist nicht in Reserve an Bord. Wir ersetzen sie mit Aluminiumplatten, die aus dem Fischnetzwindenfahrstandheraus geflext werden. Improvisieren ist alles, wenn man draußen ist auf See. Die Aluplatten befestigen wir durch ein paar Bohrungen und Winkeleisen im Rahmen. Als Dichtung dienen alte Lappen. Das Provisorium hält.
Wir kommen im Zentrum des Tiefdruckgebiets an und steuern in den Süd-West-Wind Sektor. Mit der Zuggeschwindigkeit des Zentrums dampfen wir nach Nordosten, Richtung Island. Ich bleibe auf der Brücke, in Wechselwache mit meinem Sohn, um Ausguck zu halten und die Kommunikation mit dem Maschinenleitstand aufrecht zu halten. Knapp sechshundert Seemeilen.
Ein Schlepper nimmt uns vor Reykjavik auf den Haken. Wir haben überlebt.
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