Seemannsdiakon Sturm: in Gedanken kurz ein Seemann sein

Fiete Sturm ist der Seemannsdiakon von Hamburg-Altona und Leiter der Seemannsmission an der Großen Elbstraße. Jeden Donnerstag schreibt er im Ankerherz Blog aus seinem Alltag im Hafen. Diesmal geht es um ein Rollenspiel: einmal kurz Seemann sein.

Moin! Heute möchte ich über Seenotrettung im Mittelmeer schreiben. Ich kann mir vorstellen, dass manche an dieser Stelle die Augen verdrehen und aussteigen wollen. Sich vielleicht Dinge denken wie: „Davon habe ich schon zu viel gehört. Ist ein unbequemes Thema. Polarisiert zu sehr. Andere Sachen sind doch aktuell wichtiger wie Corona oder Unruhen in den USA.“

Aber ich würde gerne ein kleines Experiment mit Dir wagen. Ich möchte Dich einladen, einen neuen Blickwinkel zu diesem Thema kennenzulernen.

Stell dir vor, du arbeitest auf einem Containerschiff und bist ein Seemann.

Du kommst von den Philippinen oder vielleicht auch aus der Ukraine. Manchmal bist du bis zu einem Jahr von deiner Familie weg. Du hast nur Kontakt mit deinem Partner und deinen Kindern, wenn du mal lange genug in einem Hafen liegst, um dir dort eine Telefonkarte zum „skypen“ zu organisieren

Das Leben als Seemann

An manchen Tagen bist du so müde, dass du dich fragst, wie lange du das noch aushältst. Die Verpflegung ist in Ordnung, aber nicht immer sehr reichlich und auch nicht wirklich abwechslungsreich. Deine Kollegen sind nett, aber in jedem größeren Hafen gehen zwei, drei von ihnen von Bord und werden durch neue ersetzt. Das macht es schwer und anstrengend, Freundschaften aufzubauen.

Lieber verbringst du deine wenige, freie Zeit allein um dich auszuruhen oder eine Mail an deine Familie zu schicken, die dann doch wieder einen Tag braucht, bis sie über das langsame Schiffsinternet auf den Weg kommt.
Und dann ertönt eine Warnung vom Kapitän durch die Lautsprecher. Ihr seid im Mittelmeer und es wurden Menschen in einem kaputten Schlauchboot gesichtet. Die italienische Leitstelle für Seenotrettung bittet dein Schiff zu helfen. Sie selbst haben keine Schiffe unterwegs. Auch die freiwilligen Retter von Sea-Eye oder Sea-Watch können nicht kommen. Ihre Schiffe wurden in der Coronakrise unter fadenscheinigen Gründen festgesetzt. Also bleibt nur dein Schiff, um zu helfen. Und deine Berufsehre und Verpflichtung als Seefahrer gebietet es dir, aktiv zu werden.

Beim Ertrinken zusehen

Du schaffst es, über 50 Menschen an Bord zu nehmen. Die letzten drei, darunter ein kleines Kind, ertrinken. Du bekommst die Leiche nicht an Bord, denn es ist schon schwierig, lebende auf den Frachter zu bekommen. Mehr als ein Mal bist du schon fast selbst über Bord gegangen.

Dein Kapitän kontaktiert nun die italienischen und maltesischen Behörden. Er bittet um einen Anlaufhafen, um die Geretteten zu übergeben. Aber man lässt euch tagelang hängen. Die Verpflegung und das Trinkwasser gehen zur Neige. Das Schiff ist ohnehin nicht für mehr als 20 Menschen an Bord ausgelegt. Viele müssen daher unter freiem Himmels auf dem Stahldeck schlafen. Es ist keine Ausrüstung an Bord, um Krankheiten zu behandeln. Die Stimmung wird von Tag zu Tag schlechter.

Manche Passagiere werden depressiv, verzweifeln, verletzen sich sogar selbst. Andere verstehen nicht, was vor sich geht und werden wütend. Du selbst weißt auch nicht genau was du machen sollst. Darauf wurdest du nie vorbereitet. Alles was du weißt ist, dass du kaum noch schlafen kannst, weil du jede Nacht das im Wasser treibende Kind vor Augen hast.

Ein kleines Rollenspiel als Seemann

Nach über einer Woche, in der ihr es irgendwie geschafft habt, die Situation zu überstehen, darf dein Schiff die geretteten Menschen in einen italienischen Hafen bringen. Dazu war viel öffentlicher und politischer Druck nötig. Du bittest noch am gleichen Tag in einer Mail an deine Schifffahrtsagentur darum, künftig nicht mehr im Mittelmeer eingesetzt zu werden. Es dauert Monate, bis du wieder schlafen kannst. Es hilft ab und zu in den Häfen mit einem Bordbesucher der Seemannsmission reden zu können. Eine nötige Therapie und entsprechende Auszeit kannst Du Dir aber leider nicht leisten.

Ich hoffe, dieses kleine Rollenspiel hilft dir, die aktuelle Situation aus der Sicht eines einfachen Seemanns etwas besser zu verstehen. Der Text selbst ist zwar fiktiv, enthält aber viele Elemente, die genau so oder ähnlich passiert sind. Seeleute haben mir davon berichtet.

Solange es keine staatliche Rettung gibt und freiwillige Retter in ihrer Arbeit behindert werden, leiden Seeleute unter den Folgen. Denn sie haben keine Wahl, ob sie retten oder nicht. Flüchtlinge wird es immer geben, solange wir als westliche Wertegemeinschaft die Augen vor unser globalen Verantwortung schließen.

Aus dem Hamburger Hafen,

euer Fiete Sturm

 

FIETE STURM, JAHRGANG 1982, IST HAMBURGS SEEMANNSDIAKON UND LEITER DER SEEMANNSMISSION ALTONA. IM ANKERHERZ BLOG SCHREIBT ER AUS EINEM LEBEN UND SEINEM ALLTAG IM HAFEN. JEDEN DONNERSTAG HIER.

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