ANKERHERZ AUF REISEN: Irlands Gespenster

Zum ersten Mal sah Bernadette Quinn das Gespenst in einer kalten Winternacht des Jahres 1975. Der Geist sah freundlich aus und gepflegt, trug eine Krawatte und einen Anzug, der, das fiel Mrs. Quinn sofort ins Auge, altmodisch geschnitten war. Ein Mann mittleren Alters, der neben ihrem Bett auf und ab schritt. Sein Schnurrbart war struppig und markant, mit nach oben gedrehten Enden, und an diesem Gesichtswuchs erkannte sie ihn später auf einer alten Fotografie wieder.

„Der Geist heißt James Harvey Locke. Ihm gehörte die Destille um das Jahr 1900“, berichtet Mrs. Quinn. Weil sie spürt, dass eine Unterhaltung über einen schnurrbärtigen Geist namens James ein gewisses Maß an Skepsis erzeugt, erkundigt sie sich:

„Sie glauben mir doch, oder?“

Irlands Gespenster: „Sie glauben mir doch?“

Mrs. Quinn ist eine resolute, ältere Dame, die einen eleganten Hosenanzug trägt und deren Gesichtszüge von einer aristokratischen Strenge sind. Man wagt es nicht recht, ehrlich zu antworten. Zumindest, Mrs. Quinn, gibt es keinen besseren Ort, an dem man an Gespenster glauben kann, als die Destille von Kilbeggan, County Westmeath. Ein dunkles Gemäuer, gebaut aus grobem, grauem Stein, in dem es unheimlich knackt und knistert, und sobald der Wind um die Ecken heult, könnte man hier einen Gruselfilm drehen, ohne an der Kulisse arbeiten zu müssen.

Phantasieanregend ist auch der Geist, der hier gebrannt wird, schon seit dem Jahre 1757, was die Brennerei von Kilbeggan zu einem besonderen Ort macht: Es ist eine der ältesten Whiskey-Destillen der Welt.

Das Wasser des Lebens

Dass sie noch existiert und heute sogar wieder in Betrieb ist, ist dem Ehepaar Quinn zu verdanken, das die Gebäude inklusive einer Mühle jahrzehntelang ehrenamtlich in Stand hielt, bis der Spirituosenhersteller Cooley die Brennblasen wieder in Gang setzte. Wegen ihrer Hingabe für das alte Gebäude im Dorf hielt Mrs. Quinn regelmäßige Besuche der anderen Art aus, die ihr, wie sie betont, auch ein TV-erprobter Geisterjäger aus England bestätigte.

Mehrere Gäste, die sie besuchten, sahen das Gespenst mit dem Oberlippenbart. Und auch, als das neue Museum eingeweiht wurde, in dem man über die Entstehung des „Uisce beaha“ erfährt, des „Wasser des Lebens“, wie der Whiskey auf Gälisch heißt, tapste eine übersinnliche Figur durchs Gebäude.

Vermutlich aber nicht James Harvey, sondern eine Lady, aber das ist eine andere Geschichte.

(Text: Stefan Kruecken /// Fotografie: Yannick Dekeyser)

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