ANKERSCHMERZ: Die Wärme einer S-Bahn
Menschen, die auf der Straße leben, brauchen Öffentliche Verkehrsmittel dringender als andere. Sie brauchen sie nicht, um zur Arbeit, zur Familie oder zu Freunden zu kommen. Sie brauchen sie zum Überleben. Man ist immer in Bewegung. Rastlos am Laufen. Manchmal braucht man Pausen.
In meiner ersten Nacht trieb es mich direkt zu einem S-Bahnhof. Ich war alleine in den Straßen. Es war finster und der Schnee wirbelte umher. Das einzige Licht für mich war das Licht der Straßenlaternen. Bis heute fühle ich mich ihnen verbunden. Das Licht im Dunkeln.
Die Wärme einer S-Bahn
Erst einmal in der Bushaltestelle hinsetzen. Erst einmal denken. Wie geht es weiter? Das Problem ist: Es gibt kein Ziel, wenn man auf der Straße lebt. Darum geht es im wahrsten Sinne von Bahnhof zu Bahnhof. Immer weiter, von Bank zu Bank. Der nächste Halt ist, wie alle anderen, nur ein Zwischenstopp.
Ich muss nirgends aussteigen. Ich muss einsteigen.
Die Bänke und Sitze und Haltestellen helfen, wenn man auf der Straße lebt. Hier kann ich kurz verschnaufen. Immer gut für ein kleinen Snack. Den Snack muss man bezahlen können. Die Bahnhöfe sind der Ort, an dem ich Geld machte. Hier liegen die Cents auf dem Boden oder im Müll. Es tut außerdem gut, unter Menschen zu sein. Man will immer irgendwo dazugehören, auch wenn man es nicht tut. Man versucht vieles, um dabei zu bleiben.
Berlin öffnet die Bahnhöfe
In manchen Nächten war es so eiskalt, dass die S-Bahn der einzige warme Ort war. Andere entscheiden sich für ein Kaufhaus. Legen sich unter die Lüftung. Dort pustet es ein wenig Wärme heraus. Um 7:30 Uhr am nächsten Morgen sind sie tot. Überfahren. Von jemanden, der einfach zur Arbeit wollte und nicht damit gerechnet hat, dass ein Mensch dort schlafen muss.
Die Berliner Verkehrsgesellschaft hat nun beschlossen, nicht genutzte Bahnhöfe für Obdachlose im Winter zu öffnen. Davor hatte man sogar vor, alle Bahnhöfe zu schließen. Berlin hat noch einmal mehr Obdachlose als Hamburg. Die Öffnung der Bahnhöfe ist dort dringend notwendig. Es hilft, dass Menschen nicht erfrieren. Die Nächte werden jetzt wieder kalt. Es dauert nicht mehr lange, bis es gefährlich ist, draußen zu übernachten.
Tauben und Ratten als Nachbarn
Genau das ist mir gestern auch klar geworden: Wie abgehoben bin ich geworden? Bin ich wirklich der Meinung, dass Menschen in einem U-Bahnschacht schlafen sollten? Mit Tauben und Ratten als Nachbarn? Würde ich das gerne machen? Ich möchte mich dafür einsetzen, dass andere dort sich aufhalten dürfen.
Jeder Mensch hat ein Dach über den Kopf verdient. Nicht weniger. Es ist traurig, dass es sich wie ein Sieg anfühlt, wenn jemand einen U-Bahnhof offen lässt. Das macht mich nachdenklich.
Dominik Bloh, Jahrgang 1988, lebte elf Jahre lang immer wieder auf den Straßen von Hamburg. Sein Buch über sein Leben heißt: „Unter Palmen aus Stahl“, und wurde ein SPIEGEL-Bestseller. Überall im Handel und auf HIER im Ankerherz Shop.
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