ANKERSCHMERZ, Straßengeschichten: Durchhalten
Manche Dinge lernt man schon früh im Leben. Ich bin in Bayern geboren und aufgewachsen. Mit fünf Jahren wurde ich eingeschult. Bereits in der ersten Klasse war Deutsch mein Lieblingsfach. Ich konnte schon ein bisschen schreiben. Bei meinen Großeltern lag ich nachts wach und kritzelte die Gutenachtgeschichten, die sie mir vor dem Schlafengehen erzählt hatten, in ein gelbes Heft. Ich mochte das: Geschichten aufschreiben.
Irgendwann im Unterricht stand Frau Kögel, meine Lehrerin,vor dem Tisch und nahm mir den Stift aus der Hand. Ich bin Linkshänder.
„Dominik, du schreibst ab sofort mit Rechts“, sagte sie.
Sie wollten einen Rechtshänder machen
Ich wollte das nicht. Am Nachmittag kam meine Mutter zu mir. Sie hatte mit Frau Kögel gesprochen und wollte mir nun ebenfalls aufzwingen die rechte Hand zu benutzen. Ich probierte es aus, doch es fühlte sich falsch an. Ich konnte es nicht. Dabei sagten alle die ganze Zeit: „So ist es richtig.“ Was sollte daran richtig sein? Ich verstand es nicht.
Meine Mutter wurde wütend. Meine Lehrerin, die mich vorher mochte, weil ich schon viele Buchstaben und Wörter kannte,bestrafte mich, indem sie mich links liegen ließ. In den Diktaten bekam ich vorher oft die volle Punktzahl. Meine Schrift war sauber, meine Grammatik war gut. Kein Grund zu Meckern also. Ein Lob blieb trotzdem aus, weil ich weiter mit der linken Hand schrieb. Während meine Lehrerin michignorierte, probierte meine Mutter verschiedene erzieherische Methoden. Strafen, Lob, Verbote. Ich sollte endlich gehorchen.
Durchhalten
Doch man sucht es sich nicht aus, Links. oder Rechtshänder zu sein. Es ist einfach so. Ich war Linkshänder, und ich wollte es bleiben. Das war die vielleicht erste bewusste Entscheidungmeines Lebens. Weder meine Mutter, noch meine Lehrerin oder irgendwer sonst schafften es, mich davon abzubringen.
Letztes Jahr arbeitete ich in einer Jugendwohnung in Wilhelmsburg. Dort betreute ich minderjährige Jugendliche. Alle waren laut und voller Energie. Es gab Gerangel und es wurde auch manchmal gerauft. Man spürt, wie wichtig es ist, den Jungen Stärke zu zeigen. Die meisten von ihnen gehen Fitness-Studio oder trainieren in einem Kampfsportverein. Das sind fitte Jungs.
Eine Runde Armdrücken
Wir haben uns an den langen Wohnzimmertisch gesetzt. Los, eine Runde Armdrücken! Ich habe jeden von ihnen auf die Tischplatte runtergekriegt. Die Jungs waren schwer beeindruckt. Zum ersten Mal an diesem Tag war es ruhig in der Wohnung.
Ich sagte ihnen: „Es kommt nicht darauf an, wie viel Kraft man hat. Es ist wichtig, wie lange man durchhält. Die Stärke ist im Kopf. Durchhalten. Das habe ich schon als kleiner Junge gelernt.“
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