ANKERSCHMERZ, Straßengeschichten: Menschen hinter den Zahlen

Wie viele Menschen leben in Hamburg eigentlich auf der Straße? Ich weiß es nicht, niemand scheint es zu wissen. Die Sozialverbände schätzen, dass in unserer Stadt etwa 2500 Menschen obdachlos sind, Tendenz steigend. Doch alle können nur rätseln. Zuletzt wurde im Jahr 2009 eine Statistik erhoben. Bei der damaligen Zählung wurden 1029 Obdachlose ermittelt. Seitdem benutzen Stadt und Behörde diese Zahl und tragen sie in die Öffentlichkeit.

Gefühlt werden es immer mehr: Menschen, die schlecht bezahlte Jobs haben oder in die Schuldenfalle geraten sind. Oder die schnell steigende Miete nicht aufbringen können. Die Altersarmut ist ein Problem. Menschen aus Osteuropa machen einen großen Teil auf der Straße aus. Es sind viele neue Gruppen dazugekommen. Das Bild ist ein anderes als vor zehn Jahren.

Kolumne von Dominik Bloh

Nun wird in der kommenden Woche eine neue Statistik erhoben. In einem Lebenslagenbericht sollen eine genauere Übersicht geschaffen und Gründe für Obdachlosigkeit untersucht werden. Ich finde es wichtig, sich einen Überblick zu verschaffen. Dabei darf man nicht vergessen,  dass die Erfassung nur eine Woche lang geht. Ich sage: Es werden sich nicht alle melden. Viele verstecken ihre Situation. Wir können also nur von einer Mindestzahl ausgehen. Die Dunkelziffer liegt höher.

Statistiken verändern nichts, sie zählen nur.

Ich bin mir sicher, seit  2009 hat sich die Situation nicht gebessert. Wir gehen das Problem nicht an der Wurzel an. Ein Beispiel: Es wird gefragt, welche Tagesaufenthaltsstätten genutzt werden. Es wird nicht danach gefragt, warum viele dieser Menschen solche Einrichtungen meiden. Es wird nicht nach den Hürden und Schwierigkeiten für die Leute gefragt. Es ist keine qualitative Erhebung. Das ist kein Lebenslagenbericht, sondern Sammeln von Daten. Welche Herkunft? Haben Sie eine Krankenversicherung? Damit wir wirklich helfen können, müssen wir die Menschen verstehen, nicht ihre Umstände.

Wir brauchen mehr Sozialarbeiter!

Wir brauchen eigentlich keine Zahlen. Wir benötigen viel dringender mehr Sozialarbeiter.

Eine andere Sache, die mir Sorgen bereitet, ist die Möglichkeit, gezielt gegen bestimmte Gruppen vorzugehen. Ich spreche von Ausländern. Ich habe Sorge, dass man die Statistik benutzt, um es diesen Menschen noch schwerer zu machen als sie es jetzt schon haben. Diese Zahlen sollten dazu gebraucht werden, den verschiedenen Gruppen effizientere und konkreter auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Hilfestellung zu leisten. Auf keinen Fall darf sie missbraucht werden, um Menschen zu trennen und Not nach Herkunft zu unterscheiden.

Niemand ist freiwillig obdachlos.

 

 Dominik Bloh, Jahrgang 1988, lebte elf Jahre lang immer wieder auf den Straßen von Hamburg. Gerade erschien sein Buch darüber: „Unter Palmen aus Stahl“, überall im Handel und hier im Onlineshop erhältlich.

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