ANKERSCHMERZ, Straßengeschichten: Notlage in der S-Bahn
Manche Geschichten sind kurz erzählt. Es ist eine einzelne Situation im Alltag, die mir die Dinge klarer bewusst werden lässt. Eine solche Situation habe ich in dieser Woche in einer Hamburger S-Bahn erlebt.
Ich steige ein und sehe sofort diesen Mann. Seine Hosen sind heruntergelassen, halbnackt sitzt er da. Die dicke Jacke hat er ausgezogen. Die Plätze neben ihm sind frei. Einige Fahrgäste fuchteln mit ihren Händen vor dem Gesicht rum, wollen mir damit offenbar zeigen, dass der Typ nicht ganz dicht ist. Andere schütteln den Kopf, manche bringen ein Spruch.
Ein Spinner, der einfach nur nervt.
Der Mann steht auf. Er trägt tatsächlich zwei Hosen übereinander, sie hängen unter seinen Knien. Er schlendert den Gang runter bis in die letzte Reihe. Seine Jacke lässt er liegen. Wie soll man damit umgehen? Ich kann nicht so tun, als sei das eine natürliche Situation. Ich schnappe mir die Jacke und gehe zu ihm. Als erstes gehe ich in die Hocke. Unsere Blicke treffen sich.
„Was hast du? Ich mach’ dich kaputt“, sagt er zu mir. Er will bedrohlich klingen, um sich zu schützen. Ich antworte ihm, dass ich das ganz gut alleine hinkriege. Er lacht und antwortet, ihm ginge das genauso.
„Ich möchte, dass du dir deine Hosen anziehst, für dich selber möchte ich das“, sage ich.
Der Grund für Notlage
Er steht auf. Er zieht am Hosenbund, und dann sagt er es. „Ich kriege die Hose schon den ganzen Morgen nicht zu, selbst die Jacke nicht mehr angezogen. Meine Hände sind so gefroren, als seien sie taub oder gebrochen.“
Das war der Grund für diese Situation. Reine Not. „Zusammen kriegen wir das hin!“ Ein bisschen hier ziehen und da zerren und wir haben es geschafft.
Ich gebe ihm Geld für einen Tee. Er muss raus aus der Kälte. Wärme ist wichtig. Ich schaue in meinem Handy nach, wo er jetzt am besten hingeht. Es muss nur jemand anfangen, andere kommen dazu, um zu helfen. Die Frau, die vorhin neben mir saß und die ganze Zeit versuchte, die Situation auszublenden, schenkt ihm ihre Handschuhe.
Am Hauptbahnhof steigt der Mann mit Jacke und Hose, einem Paar Handschuhe und ein bisschen Geld aus. Ich hoffe, er kommt irgendwie klar.
Mir wird bewusst, dass es nicht immer so ist, wie es in einer Situation zu sein scheint. Ich kann es nur herausfinden, indem ich auf jemanden zugehe. Es gibt Situation, die ich nicht für natürlich halte; erst wenn ich rede, kann ich die tatsächliche Notlage verstehen. Es kostet Überwindung, jedes Mal. Ich habe mir eine Methode angeeignet. Ich atme tief dreimal ein und aus. Dabei höre ich nur auf meine innere Stimme und lasse mich leiten.
Ich fasse Mut und tue das, was ich für richtig halte.
Dominik Bloh, Jahrgang 1988, lebte elf Jahre lang immer wieder auf den Straßen von Hamburg. Gerade erschien sein Buch darüber: „Unter Palmen aus Stahl“, überall im Handel und versandkostenfrei hier bei uns im Shop.
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