ANKERSCHMERZ, Straßengeschichten: die Räumung
Ich stehe am Kiosk, sehe die Titelseite der MOPO und staune. Wolfgang und Thomas auf der Titelseite? Beide kenne ich gut! Wir haben uns im Winter im Café kennengelernt, das wir in den richtig kalten Wochen zeitweise für Obdachlose öffneten. Mit Thomas habe ich schon einige starke Schach-Partien gespielt. Zusammen mit Wolfgang tippe ich die Ergebnisse der Bundesliga. Wir unterhielten uns lange über das Flaschensammeln, das ist Wolfgangs Hauptbeschäftigung. Er arbeitet in Schichten und läuft in der Woche bis zu 150 Kilometer.
Thomas steht mit Zeitungen an der Feldstraße. Die Hälfte des Kaufpreises darf er behalten. Oft treffe ich ihn und erkundige mich, wie es läuft. An manchen Tagen ist er nur ein oder zwei Stück losgeworden. Mit beiden verbringe ich gerne Zeit. Erst vor zwei Wochen war ich mit Wolfgang Tanzen. Doch die harte Realität sieht meistens anders aus. Dies ist die Geschichte einer Räumung.
Die Zelte stehen am Fischmarkt
Beide leben in Zelten am Hafen. Sie sind dieses Jahr schon oft umgezogen. Am Fischmarkt, gleich an der Mauer, dort hatten sie ihr Quartier schon eine ganze Weile. Nur nicht am Hafengeburtstag, an dem glühende Kippen von oben auf die Zelte regneten. In den letzten Wochen kamen immer mehr Zelte dazu. Unter anderem das blaue Wurfzelt von Jakub. Ich habe ihn im Winter kennengelernt, als er auf einer Bank in Altona schlief.
Ich sah neulich, wie er an meiner Bahnstation ausstieg und wunderte mich. Ich sprach ihn sofort an. Er schüttelte den Kopf, hielt seine Hände vors Gesicht und wirkte ziemlich fertig. Er setzte sich auf eine Bank. Ich ging zu ihm, er war immer nett, fragte, wie es mir geht. Seine Tasche mit Pfand wurde weggenommen. Sein Zelt stand hier. „Wir sind wohl jetzt Nachbarn“, sagte ich zu ihm.
Die Räumung
Wir gingen zu Rewe. Er sollte mitnehmen, was er brauchte. Ich bezahlte und gab ihm noch ein bisschen Geld. Selbstbestimmung. Er schenkte mir eine Kippe und zeigte mir sein Zelt. Es stand in meiner Straße, auf einem Parkplatz zwischen Bordstein und Zaun. „Hier ist es so ruhig“ sagte er. Dabei war ihm klar, dass er nicht lange bleiben konnte. Schon am Morgen hatte jemand aus dem Fenster gerufen, dass er verschwinden sollte. Eine Frage der Zeit, bis es zur Räumung kam.
Ich habe Wolfgang wenig später eine SIM-Karte für sein Handy vorbeigebracht. Jakub kam extra aus dem Zelt, um mir „Hallo“ zu sagen. Ich war die letzten Wochen oft unten bei den Zelten an der Mauer. Im Park Fiction gleich darüber spiele ich gerne Basketball. Manchmal, wenn der Platz leer ist, sieht man, wie viel Müll liegen geblieben ist. Schon unangenehm. Es gab eine Anwohnerbeschwerde. Daraufhin reagierte der Bezirk und ließ am Dienstag den Platz räumen.
Am Abend schreibt mir Thomas auf Facebook in Großdruckbuchstaben:, „ICH BRAUCHE EINEN NEUEN SCHLAFPLATZ!“
Dominik Bloh, Jahrgang 1988, lebte elf Jahre lang immer wieder auf den Straßen von Hamburg. Sein Buch über sein Leben schaffte es in die Bestsellerliste des SPIEGEL: „Unter Palmen aus Stahl“, überall im Handel und hier bei uns im Onlineshop.
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