Die Faust von Sankt Pauli

DIE FAUST VON SANKT PAULI

von Stefan Kruecken, Ankerherz

 

Recht bald kommt das Gespräch auf jene Nacht, als er mit „SS-Klaus“ und „Angie“ Becker ins Eros-Center marschierte. Es hatte Ärger gegeben, weil sich zwei Frauen geschlagen hatten und die Zuhälter vom „BelAmi“ einen Verdienstausfall forderten. Für die Abteilung Ärger der „Nutella-Bande“ war damals er zuständig: Thomas Born, nur bekannt als „Karate Tommy“, die Faust von St. Pauli.

„Das Licht war gedämpft, links ein Tresen, rechts ein paar Schatten im Halbdunkeln. Ein Schuss. Die haben SS-Klaus von vorne zwischen die Augen getroffen. Teile seines Hirns klatschten auf meine Jacke. Dann hob einer der Männer eine Pistole und sagte: Tschüss Tommy!“

Thomas Born unterbricht seine Erzählung und winkt eine Kellnerin heran. „Könnte ich bitte eine Cola bekommen?“ Vor ihm steht bereits ein Eisbecher, zwei Kugeln Zitrone, zwei Kugeln Vanille mit Sahne. Er wollte unbedingt auf die Terrasse dieses Cafés im Hamburger Villenviertel Rotherbaum. An den Nebentischen sitzen ältere Damen vor gedecktem Apfelkuchen. Sie sehen irritiert herüber zu dem schrankartig gebauten großen Mann mit den kurz geschorenen Haaren und den seltsam aufgepumpten Oberarmen, der die ganze Zeit von Pistolen, Puffs und Knastgeschichten erzählt.

Born ist Ende 50. Er sieht genau so aus, wie man sich einen erfahrenen Türsteher vorstellt; in diversen Filmen, in TV-Serien oder auf Theaterbühnen übernahm er diese Rolle, und man musste ihn nicht hinschminken. Seine linke Gesichtshälfte ziert eine Narbe, Folge einer Messerattacke, und wer genau hinsieht, erkennt noch ein paar Erinnerungen an Begegnungen mit Knüppeln oder Totschlägern. Aber Born, der Schauspieler vom zweiten Bildungsweg, wirkt trainiert. Drei Runden am Sandsack hauen noch hin, erzählt er, grinst, „das reicht für den Hausgebrauch.“ Neben ihm sitzt seine neue Freundin, eine Polin, Mitte 20, die er in einem Fitness-Studio kennen lernte.

„Sorry, wo war ich stehen geblieben?“, fragt Born.

SS-Klaus, Hirn auf der Jacke.

„Ach ja, richtig. Ich duckte mich zur Seite weg, das war reiner Überlebensinstinkt. Ich merkte, wie eine Kugel mich traf, ein paar gingen in die Wand. Dann hatte der Ladehemmung und ich sah die Tür, acht Schritte entfernt. Da bin ich einfach durch gesprungen“.

Er überlebte, trotz eines Steckschusses im Bauch, mit einem Streifschuss am Oberarm und den Verletzungen, die man sich an einer geschlossenen Massivholztür zufügt. Seine Begleiter starben in dieser Nacht, am 22. Oktober 1982, als auf der Reeperbahn das ungeschriebene Gesetz gebrochen wurde, Konflikte nicht mit Schusswaffen auszutragen.

„Danach“, sagt Born, „kam vieles anders.“

Was nicht bedeutet, dass St. Pauli, das berühmteste Rotlichtviertel der Welt, jemals ein Ort gewesen wäre, an dem Pazifismus gepflegt wurde. Nächstenliebe gibt es nur, wenn hinterher bar bezahlt wird. Nach dem Doppelmord im Eros-Center und einem dubiosen Freispruch der Täter aber militarisierte sich der Kiez, und als Anfang der 80er Jahre Kokain und Heroin in großen Mengen über das Viertel zwischen Reeperbahn, Spielbudenplatz und Großer Freiheit kamen, war es mit den letzten Resten von Gaunerromantik ohnehin vorbei.

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Thomas Born alias Karate Tommy (Foto: Achim Multhaupt)

Anekdoten über Ehre von Ganoven, von Respekt, von Höflichkeit und gegenseitiger Fürsorge im Milieu hat Born einige zu bieten, und er ist ein guter Erzähler mit brummiger Stimme. Er berichtet aus einem Paralleluniversum von „Gamasche“ und „Zement-Kopf“, von „Vierfinger-Heinz“ und „Stoppel-Jürgen“, in dem andere Anziehungskräfte herrschen. „In meiner Welt ist das so: Ich helfe, wenn ein Kollege anruft und sagt: ‚Mensch Tommy, vor meinem Puff hängen vier Leute rum, alle gesattelt’ (bewaffnet, Anm. d. Autors). Dann lädst du durch, steckst ein und fährst hin. Zu helfen, bedeutet nicht, sich mal das Fahrrad für den Sonntag auszuleihen, wie bei euch Soliden.“

Born nimmt ein paar Löffel von seinem Zitroneneis und sieht sich vorsichtig um, er sieht sich alle paar Minuten um. Die alten Damen an den Nebentisch essen ihren Apfelkuchen inzwischen ziemlich zügig.

Wir „Soliden“: Die Bürgerlichen, die Scheinheiligen, die, so sieht Born das, die sofort die Frau des besten Freundes anmachen, wenn der mal kurz nicht aufpasst. Die keine Werte haben. Keinen Respekt. Aufgewachsen war Born in ganz soliden Verhältnissen, geboren im feinsten Hamburger Vorort Blankenese: Der Vater Jagdflieger der Luftwaffe, seine Mutter stammt aus einer Ärztedynastie. Als er drei war, zog die Familie nach Berlin und der kleine Thomas bemerkte bereits in der Schule, dass etwas in ihm war, etwas, das andere nicht kannten. „Ich hatte ein gewisse kriminelle Energie“, meint er selber. Zusammen mit „einem Dicken“ (Born) aus der Parallelklasse organisierte er Münzspiele auf dem Klo, wobei die Allianz Dicker und Born die Bank gab; nach einigen Wochen übernahm Born das Geschäft, in dem er seinem Partner im Klassenzimmer die Nase brach. Auch eine Karriere als halbstarker Chef der „Kundry“-Bande, benannt nach einer Straße im Viertel, besserte nicht eben seinen Notenschnitt. Ein ratloser Schulpsychologe attestierte „eine angeborene Neigung zum Zweikampf.“

Die Familie zog nach Hamburg zurück; Born wechselte mehrfach die Schule und schaffte sein Abitur mit der Note 3,5. „Damit konnte ich ja nur Holzwirtschaft studieren“, sagt er. Erfolgserlebnisse erfuhr er auf der Judomatte und in der Karateklasse. Weil er Adrenalin suchte und seinem Vater nacheifern wollte, verpflichtete er sich bei der Bundeswehr, wollte zunächst „Starfighter-Pilot“ werden, entschloss sich auf Rat seines Bruders dann, Fallschirmjäger zu werden. Nachtsprünge, Einzelkämpferausbildung, Manöver im Bayrischen Wald – bald schien auch das zu langweilig. Um aus seinem Zeitvertrag herauszukommen, würgte er seinen Stabunteroffizier, bis der bewusstlos war.

Mit seinen Ersparnissen eröffnete Born das „Karate-Institut Hamburg“, das bald einen lauten Ruf genoss. Nirgendwo wurde ähnlich hart trainiert wie beim Kapitän der deutschen Karatenationalmannschaft, der obendrein noch Kickbox-Europameister wurde und Titel als Judochampion sammelte. Als bekannt wurde, dass er illegale Kämpfe in Hinterhöfen von St.Pauli organisierte, schmiss ihn der Karatebund heraus. Aber das war Born längst egal: Ein Türsteher von St. Pauli, von denen viele bei ihm trainierten, vermittelte einen Job als Bodyguard für eine Kiezgröße, für 5000 Mark. Es kam zu einem schweren Kampf im Frankfurt Bahnhofsviertel und zu einem weiteren auf St.Pauli. Anschließend galt Born als neuer, starker Mann im Viertel.

„Ich ging nicht zum Kiez“, sagt er, „der Kiez kam zu mir.“

Wer sich mit Born unterhält, wird gut unterhalten. Born hat Stories zu bieten, die unmöglich erscheinen: Etwa die, wie er der Tochter eines amerikanischen Mafiabosses aus einer Notsituation hilft, vom Paten eingeladen und auf dem Flug nach Las Vegas von zwei FBI-Agenten abgefangen wird, deren Mimik und Aussehen er parodiert. Es kommt auch vor, dass der ehemalige Schwerverbrecher über die Figur „Kundry“ aus Wagners Oper „Parzival“ doziert oder Gedichte von Christian Morgenstern rezitiert:

Wo bist du hin? Noch eben warst du da/

Was wandtest du dich wieder abwärts, wehe/

nach jenem Leben, das ich nicht verstehe/

und warst mir jüngst doch noch so innig nah.“

Um dann im nächsten Moment mit immer lauter werdender Stimme zu erzählen, wie eines seiner Etablissements von einer Türkengang bedroht wurde, woraufhin er mit seiner Harley-Davidson in die Schaufensterscheibe einer Döner-Bude hinein fuhr, mit einem Tisch die Inneneinrichtung zerlegte und sich den Clanchef vorknöpfte. Dabei springt er auf, breitet die Arme aus, seine Augen bekommen einen kalten, merkwürdigen Glanz und er proklamiert mit vor Aggression bebender Stimme:

„Hör zu, hör mir ganz genau zu, dummes Arschloch: Mach das nie wieder, oder ich komme zurück und HAU DIR MIT EINEM MORGENSTERN DAS METT AUS DEM SCHÄDEL“

Morgenstern und Mett im Schädel, die Worte hallen durchs Café. Am Nebentisch klappern Kaffeetassen. Die Senioren sehen ergriffen aus und winken nach der Kellnerin. Born dreht sich um, er sagt: „Entschuldigung, das sagt man dann bei uns eben so.“

Vielleicht beherbergt jeder Mensch mehrere Wesen in sich, aber in Born ist ein besonders wildes Exemplar zu Hause, das immer wieder heraus drängt. Born ist Morgenstern, wie Schädelbasisbruch, und Morgenstern, wie Lyrik. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, dass er der „Nutella-Bande“ als Optimalbesetzung für den Abteilungsleiter „Ärger“ galt.

Die „Nutellas“ – die so hießen, weil sie von den anderen Banden verdächtigt wurden, so jung zu sein, dass sie sich Nuss-Cremé auf die Brote schmierten – betrieben ein Dutzend Bordelle, in denen knapp 220 Huren arbeiteten. Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre kontrollierte die Gruppe den Kiez, was vor allem an der zupackenden Art eines der sechs Gesellschafter lag: Born zitiert aus dem Repertoire seiner Einschüchterungsvarianten: „Gegen dich ist eine Scholle ein Kugelfisch, wenn ich mit dir fertig bin“, so etwas in der Art. Einmal versuchte eine große Gruppe Afrikaner im Stile amerikanischer Pimps den Kiez zu übernehmen, in weißen Anzügen und unter großen Hüten. Die „Nutellas“ riefen Milieugrößen aus der Republik zusammen. Nach einer „Riesenhauerei“ (Born) und einigen Warnschüssen hatte „sich das Problem ganz schnell erledigt“.

Und er berichtet von Ferraris, von Lamborghini und Cadillacs, von schönen Frauen, von einem Berg aus Banknoten, der alle zwei Wochen auf einen Tisch gestapelt und von den Gesellschaftern geteilt wurde. Born legt Wert auf die Feststellung, als Karate Tommy niemals Geld von einer Prostituierten kassiert zu haben. „Zuhälter war ich nie“, sagt er, „damit das klar ist.“

1983, nach ein paar Jahren, verhaftete ihn ein Sondereinsatzkommando der Polizei. Isolationshaft. Vier Monate lang, in einem Hochsicherheitstrakt. In der Zelle nebenan saß ein RAF-Terrorist. Hofgänge waren nur mit Handschellen und in Begleitung zweier Beamter erlaubt; in 14 Tagen durfte Born drei Mal duschen. „Du musst dich in solch einer Lage konzentrieren“, sagt Born. Vor allem, wenn er morgens aufwachte, den Scheinwerfer an den Gitterstäben vorbei huschen sah und den Drang unterdrücken musste, in der Enge der Zelle auszurasten. Er erstellte einen Trainingsplan mit Klimmzügen und Liegestützen, schrieb Briefe an seine Frau und las Gedichtbände, einen nach dem Anderen. Er beauftragte drei Anwälte, von denen einer nur damit beschäftigt war, Beweise gegen die Anklagepunkte zu sammeln.

Wegen Steuerhinterziehung, Steuerbetrug, Nötigung und Förderung der Prostitution verurteilte ihn das Gericht schließlich. Den Rest konnte die Staatsanwaltschaft nicht beweisen. Nach zwei Jahren kam Born frei und plante gerade, seine Möbel aus den ehemaligen Puffs zu räumen, als ihn ein Anruf aus Kalifornien erreichte. Am anderen Ende Burkhard Driest, Hollywoodstar, Schauspieler, Drehbuchautor – und ehemaliger Bankräuber. Driest hatte einen Fernsehbericht über Born gesehen. „Ich schicke dir ein Businessclass-Ticket, du kannst bei mir wohnen. Wir schreiben ein Drehbuch über dein Leben“, schlägt der vor.

Nun begann ein neues Kapitel in Borns großem Drehbuch der Legenden, in Malibu, in der Nachbarschaft von Hollywood-Stars wie Sylvester Stallone oder Sting. Eines Morgens fuhren Driest und Born in den Supermarkt. An der Kasse fasste eine Frau Born an die Brust und sagte: „Du hast tolle Muskeln, Mann.“

Born, der ein solches Verhalten ungebührlich findet, langte der Frau ebenfalls an die Brust und antwortete:

„Du hast tolle Möpse, Frau.“

Als er auf den Parkplatz kam, starrte ihn Driest entgeistert an: „Warum hast du denn gerade Madonna an die Titten gefasst?“, fragte er.

Es gibt noch mehr solcher Stories, von Cocktailpartys, auf denen „The German from jail“ zur Attraktion wurde, oder aus der Zeit, als er mit „Miss Fitness USA“ liiert war, einer guten Freundin von Madonna, in deren Küche er literweise Eis („Madonna hatte einen ganzen Kühlschrank voll“) schleckte. Das Drehbuchprojekt aber scheiterte, unter anderem, weil Born nach Deutschland zurück flog, um Zeuge der Geburt seines ersten Sohnes Monty zu sein.

Die Terrasse des Eiscafés ist nun verlassen. Eine Wespe summt immer wieder um seinen leer gekratzten Eisbecher. „Ach komm, verpiss dich“, raunt Born.

Die Wespe verpisst sich wirklich.

+++

Am Abend schlendern Born und Freundin über die Reeperbahn. Born geht breitbeinig, trägt einen schwarzen Ledermantel und sieht aus wie ein Cowboy, der in seine Stadt zurückkehrt. Er geht wieder wie Karate Tommy. Die älteren Türsteher grüßen ihn herzlich: „Alles klar, Thommy?“ Ein glatzköpfiger Muskelmann nähert sich schüchtern und bittet darum, ein gemeinsames Foto mit seinem Handy aufnehmen zu dürfen: „Du warst mal mein Idol!“ Born grinst zufrieden.

Er ist noch Teil der Neonwelt von St. Pauli, hier spielt seine Geschichte, und doch gehört er nicht mehr wirklich dazu, das kann man spüren. St. Pauli wird heute von verschiedenen ausländischen Banden kontrolliert. Er hat dem Regisseur Dieter Wedel geholfen, Kontakte ins Milieu zu finden, als der die Erfolgsserie „König von St.Pauli“ drehte, eine Hommage an das Leben auf dem Kiez. Schauspieler wie Heinz Hoenig halfen ihm, Kontakte ins Filmgeschäft zu bekommen, und Born spielte die Rolle des harten Muskelmanns immer überzeugend. Er muss sich nicht verstellen.

In letzter Zeit aber wurden die Angebote seltener, die Freundschaft mit Hoenig zerbrach, und es läuft gerade insgesamt keine gute Zeit für Born. Er leitet noch ein Inkasso-Unternehmen und wird noch von Boulevardmedien angerufen, die wissen wollen, wie Albanern, Afghanen und Kurden auf dem Kiez miteinander klar kommen. Die Steuerbehörden haben mal wieder seine Konten gesperrt, der Führerschein ist noch zwei Jahre weg, er sucht eine neue Wohnung und muss jeden Tag aus einer Provinzstadt nahe Hamburg pendeln. Den alten Porsche, mit dem Anja ihn fährt, hätte er zu seiner besten Zeit nicht mal im Hinterhof abgestellt.

Aber er will sich zurück kämpfen, spricht von einem neuen Filmjob, von einer Biographie, die er veröffentlichen will. Im zurück kämpfen ist er gut. Er ist keiner, der oft in die Vergangenheit blickt, und vielleicht ist das besser so. „Meine alten Freunde sind alle entweder längst tot oder am Ende“, meint er und klingt zum ersten Mal sehr nachdenklich.

Er schlendert gerade am Eros-Center vorbei, dem Gebäude, in dem „SS-Klaus“ und „Angie“ Becker damals ermordet wurden.

„Manchmal glaube ich“, sagt Thomas Born und sieht die Fassade hoch, „es ist ein Wunder, dass ich überhaupt noch lebe.“

 

 

Zusatz: Thomas Born starb am 1. Mai 2015 an den Folgen eines Herzinfarkts. Er wurde 63 Jahre alt.

 

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R.I.P. KARATETOMMY EIN MANN MIT HERZ!
Cevin Bishopp on Mai 03 2015