Eine Büroklammer in Alaska – das Abenteuerbuch in der Wildnis
Guy Grieve führt ein Leben wie Millionen Büroangestellte auch. Ein Job, eine Familie, ein Reihenhaus. Schulden, lange Wege zur Arbeit – und das Gefühl, dass etwas gründlich schiefläuft. Wenn er im Stau steht, träumt er von Abenteuern am wildesten Ende der Welt. Er träumt von Alaska. Eines Tages setzt er alles auf eine Karte. Grieve, im Freundeskreis für seine Ungeschicklichkeit berüchtigt, zieht an den Yukon River. Er will dort überwintern. Mitten in der Wildnis baut er eine Hütte. Er kämpft gegen Wölfe, Bären und seine eigenen Dämonen, er lernt Jagen und Eisfischen – und findet sich schließlich selbst. Eine herzergreifende, wahre Geschichte. Erzählt mit dem Augenzwinkern und dem schwarzen Humor eines Mannes, der das Loch für seinen Kamin eigenhändig ins Dach schoss.
Dies ist eine exklusive Leseprobe aus „Eine Büroklammer in Alaska.“ Überall im Buchhandel – und hier bei uns im Shop.
Foto: In der Wildnis von Alaska. Foto: Trevor Gridley
Kapitel 23 /// Panzer im Schnee
Es war Anfang November, die Tage wurden noch einmal düsterer, und mein Proviant ging langsam zur Neige. Der Schnee lag inzwischen fast anderthalb Meter hoch, und es hörte immer noch nicht auf zu schneien. Mein wichtigster Job war es, den Ofen am Glühen zu halten. Eines Morgens zog ich die Schneeschuhe an – ohne die man sich nun überhaupt nicht mehr fortbewegen konnte – und lief in Richtung See, um Brennholz zu suchen. Es machte richtig Spaß, ohne Anstrengung über den frisch gefallenen Schnee zu laufen; wie ein fliegender Teppich trugen mich die Schneeschuhe durch meinen gefrorenen Kosmos, und ich ertappte mich immer wieder dabei, dass ich ungläubig auf meine Füße blickte, wie ein Kind, das zum ersten Mal seine neuen Schuhe trägt. Ich musste daran denken, wie wir Oscar Schuhe ge- kauft hatten, in deren Sohlen kleine Lichter angebracht waren, die bei jedem Schritt blinkten. Wenn wir ihn nicht immer wieder daran erinnert hätten, beim Laufen gelegentlich auch nach vorne zu schauen, wäre er garantiert in das nächste Hindernis gekracht.
Ich lief quer über das Eis zum anderen Ufer des Sees, wo ich eine erstaun- liche Erfahrung machte – dass man nämlich auch bergauf fallen kann. Ich setzte einen Schneeschuh auf die steile Böschung, und als ich den zweiten nachziehen wollte, rutschte ich ab und flog mit dem Gesicht voran in den Schnee. Einen Moment lag ich verdutzt da, und als ich versuchte, mich mit den Händen aufzustützen, sackten meine Arme bis zu den Achseln in den Schnee; ich kam mir vor wie ein gestrandeter Wal. Erst als ich mich auf den Rücken gewälzt hatte, gelang es mir, wieder auf die Füße zu kommen. Schnell streifte ich den Schnee aus der Kleidung, bevor er anfing zu schmelzen. In dieser sonderbaren Welt musste ich alles neu erlernen – sogar das Laufen.
Die Spuren eines großen Wolfs
Mit den breiten Schneeschuhen kam ich den steilen Anstieg vorwärts nicht hoch, also stapfte ich seitwärts und half mit den Armen nach, indem ich mich an kleineren Bäumen und Büschen nach oben zog. Fuzzy hatte es ungleich leichter – er sprang immer genau in meine Spuren, wo der Schnee von meinem Gewicht bereits zusammengedrückt war. Wir kamen an einigen abgestorbenen Fichten vorbei, die perfektes Brennholz abgeben würden, und erreichten einen Hain mit Birken, der sich so weit erstreckte, wie das Auge reichte. Ich schaute mich um und war zufrieden: Hier gab es reichlich Grünholz, das ich mit trockenen Fichtenscheiten mischen konnte.
Später stießen wir auf die Spuren eines großen Wolfs. Die Abdrücke seiner Pfoten folgten Löchern im Schnee, die ich ein paar Tage zuvor hinterlassen hatte, als ich noch ohne meine Schneeschuhe ausgekommen war. Ich konnte genau sehen, wie er sich mit seinen Vorderläufen durch den Schnee vorgetastet hatte, bevor er die Pfoten mit seinem gesamten Gewicht belastete. Ich folgte den Spuren, bis sie abrupt von meinem Weg abbogen. Meine Neugier war stärker als die Vorsicht, und ich beschloss, mich von den Abdrücken des Wolfs weiter führen zu lassen. Fuzzy ließ ein besorgtes Jaulen hören, als woll- te er sagen: »Hey, nicht so schnell! Lass uns noch einmal kurz überlegen, ob das wirklich eine gute Idee ist.« Ich tätschelte seinen Kopf und holte ein Stück Trockenfisch aus meiner Tasche, das ich mit ihm teilte. Kauend wanderten wir weiter, bis wir an die große Lichtung kamen, die mir gleich bei der ersten Erkundung des Geländes mit Don und Charlie aufgefallen war – der Grassee.
Weiter ging es, auf den Spuren des Wolfs. Für mich begann jetzt neues Territorium, hier waren wir vorher noch nie langgekommen, und mit jedem Schritt ergänzte ich die Landkarte, die in meinem Kopf entstand. Im tiefen Schnee wurde das Laufen beschwerlicher, und ich musste wieder an Dons Warnung denken, dass ich unter keinen Umständen ins Schwitzen kommen durfte. Ich schlug ein paar Zweige von einem Baum und setzte mich darauf. Als ich meine Trinkflasche aus der Außentasche meiner Jacke holte, stellte ich fest, dass der Inhalt komplett gefroren war. »Du Idiot!«, schimpfte ich laut mit mir selbst. Das nächste Mal musste ich die Flasche also unter ein paar Lagen meiner Kleidung tragen. Sollte ich eine Handvoll Schnee essen, um meinen Bedarf an Flüssigkeit zu decken? Besser nicht, denn wahrscheinlich würde mir davon nur kalt werden. Also kaute ich stattdessen ein weiteres Stück Trockenfisch. Mit Erleichterung stellte ich fest, dass ich eine ungefäh- re Ahnung hatte, wo ich war; die Spur des Wolfs hatte mich in einem Kreis zurückgeführt, bis zum Lager war es gar nicht mehr weit. Fuzzy saß neben mir auf einem Zweig und knabberte die Eisklumpen weg, die sich zwischen seinen Ballen gebildet hatten. Eine sanfte Brise strich durch die Wipfel der Bäume, und zum ersten Mal seit Monaten fühlte ich mich einfach nur glück- lich. Meine Gedanken wanderten kurz zurück zu meiner alten Existenz im Büro, diesem Leben in Gefangenschaft. Aber mir war das unglaubliche Privi- leg zuteil geworden, das alles hinter mir lassen zu können und jetzt in diese magische, unberührte Welt einzutauchen.
Ich griff nach der Pumpgun
Ein lautes Krachen und Knacken riss mich aus meiner Träumerei. Ich sprang auf und griff nach der Pumpgun. Neben mir knurrte Fuzzy mit hoch- gezogenen Lefzen, und sein Fell sträubte sich. Ich versuchte im schummrigen Licht zwischen den Bäumen zu erkennen, woher die Geräusche ge- kommen waren, aber es war nichts mehr zu hören. Die Sonne war bereits untergegangen, und es würde nicht mehr lange dauern, bis auch das letzte Licht verschwunden war. Der Wald blieb still, da war nichts. »Okay«, sagte ich schließlich und tätschelte Fuzzy den Kopf, um uns beide zu beruhigen. »War wohl ein Baum, der unter der Schneelast umgefallen ist.« Fuzzy war nicht überzeugt, er hob die Schnauze, um Witterung aufzunehmen. Dann hörte ich es wieder: ein enormes Krachen und Knirschen, ein kräftiger Rumms. Ganz offensichtlich ein großes Tier, und zwar direkt vor uns, und es gab sich an- scheinend keine besondere Mühe, Hindernissen auszuweichen. Ich starrte auf die Bäume vor mir und wunderte mich, woher der Krach von berstendem
Holz eigentlich kommen sollte: Zwischen den dunklen Fichten gab es kaum Unterholz, von ein paar kümmerlichen Trieben von Birken und Erlen abge- sehen. Schlagartig wurde mir klar: Das Tier kam aus der anderen Richtung, aus dem Hain von Birken, Weiden und Pappeln, durch den ich selbst gerade gekommen war. Blitzschnell drehte ich mich um und schob eine Patrone in den Lauf. »Jetzt ganz ruhig«, murmelte ich. Das Tier kam näher; ich sah, wie der Schnee von den Baumwipfeln fiel. »Das kann kein Wolf sein«, sagte ich zu Fuzzy, der jetzt zähnefletschend knurrte.
Es kann kein Wolf sein
Und dann stand er vor uns: ein riesiger Elchbulle, keine 20 Meter entfernt, mit dunkelbraunem, zotteligem Fell. Es war ein ergreifender Anblick, dieses gigantische Tier so nah, doch gleichzeitig kam ich mir vor wie ein armer In- fanterist, der auf einer schmalen Straße plötzlich einem Panzer gegenübersteht. Der Elch hob den Kopf und fixierte mich mit einem Auge. Alles an diesem Bullen war riesig, sein enormer Schädel, sein ausladendes Geweih und auch das Vorderbein, mit dem er jetzt ungehalten auf den Waldboden stampfte. Was hatte Don noch gesagt? Dass in Alaska mehr Menschen von Elchen getötet wurden als von Bären? Wenn es zu einer Begegnung kam, war sein Rat gewesen, dann sollte ich mich hinter einen Baum stellen. Der Elch war nicht beweglich genug, mir zu folgen, wenn ich nur immer schnell genug auswich und den Stamm zwischen mir und dem Tier behielt. In der Theorie zumindest – und immer vorausgesetzt, dass ich nicht stolperte und hinfiel. Denn dann würde mich der Elch doch noch zu Tode trampeln. Dieses Exem- plar wog mehr als eine halbe Tonne, und sein schaufelartiges Geweih wird von einer Spitze zur anderen bestimmt anderthalb Meter gemessen haben. Wir standen regungslos da, alle drei: Elch, Hund und Mensch. Dann legte der Gigant den Rückwärtsgang ein und verschwand im Wald, wie er gekommen war – mit dem lauten Krachen von berstendem Holz.
Ein paar Minuten blieb ich wie angewurzelt stehen, der Schreck saß mir noch in den Knochen. Aber es war auch eine großartige Erfahrung, ein Exemplar dieser größten Hirsch-Spezies aus allernächster Nähe gesehen zu haben. Als ich mich auf den Weg machte, war es bereits dunkel geworden, nur der Schnee strahlte noch ein wenig Licht ab. Ich rief Fuzzy, der vorweg trabte und mich zurück zum Camp führte. Hin und wieder blickte ich hinauf in den Nachthimmel, der nun auch das letzte bleichgelbe Licht am Horizont im Westen verschluckte. Dabei entdeckte ich auf einem Ast eine Silhouette, die mir bekannt vorkam – ein Schneehuhn. Der Vogel sah wohlgenährt aus, und ich sah ihn schon vor mir, wie er in meiner Pfanne brutzelte. Da hörte ich plötzlich ein sorgenvolles Tschilpen ganz in der Nähe, und schon flatterte mein saftiger Braten davon. Wieder hektischer Flügelschlag, und das nächs- te Huhn schwirrte davon, und noch eins, und immer mehr. Fuzzy stellte sich auf die Hinterbeine und jaulte dem Schwarm von bestimmt 20 Vögeln hinterher, der sich in sicherer Entfernung auf einem Baum niederließ.
Nur der Schnee strahlt Licht ab.
Ich marschierte weiter, erstaunt über die Fülle an Leben, die mir in den letzten Stunden in dieser eigentlich lebensfeindlichen und leeren Wildnis begegnet war. Fremden wie mir ist es heutzutage verboten, Elche zu schießen, es sei denn, sie blättern Tausende Dollars für einen lizensierten Jagdführer hin. Aber vor ein paar Jahren noch wäre ich in der Lage gewesen, den Elch- bullen zu erlegen, und mit einer solchen Menge Fleisch hätte ich für den gesamten Winter ausgesorgt gehabt. Das Fleisch zu lagern, wäre kein Problem gewesen: Die Bären hatten sich in ihre Höhlen verzogen, und es war draußen vor meiner Hütte um ein Vielfaches kälter als in jedem Tiefkühlschrank. In meiner hungrigen Phantasie ging ich die vielen Möglichkeiten durch – ich hätte Steaks machen können, Rippchen, Braten, Eintöpfe und Dörrfleisch für unterwegs. Mein einziger Trost war, dass mir ja die Schneehühner blieben. Die durfte ich jagen.
Als ich bei meiner Hütte ankam, war der Wald ganz still und die ersten Sterne leuchteten fahl am Himmel. Das Feuer im Ofen war fast ausgebrannt, und es war recht kalt geworden in meiner Behausung. Minus 40 Grad zeigte das Thermometer, meine kälteste Nacht, seit ich hier war. Ich legte ein paar Scheite Fichtenholz in die Glut, um das Feuer wieder anzufachen. Langsam wurde es wärmer, das Holz der Wände begann leise zu knacken, und sogar der Fußboden fühlte sich nicht mehr ganz so eisig an. Vor meinem Ausflug hatte ich Schnee rund um die Hütte zusammengeschoben, anderthalb Meter hoch, damit keine eisige Luft mehr unter den Hüttenboden hineinziehen konnte, und das schien zu funktionieren. Ich verriegelte die Tür und hängte die dicke Decke davor. Auf dem Bett liegend starrte ich in das zischende Licht meiner Petroleumlampe. Mir tat jeder Knochen weh im Leib, und ich war so abgemagert wie nie zuvor in meinem Leben. Und trotzdem: In diesem Moment fühlte ich mich unendlich behaglich und verspürte eine Zufriedenheit, die man vermutlich nur erreichen konnte, wenn man nach monatelanger Plackerei in sein selbstgebautes Haus eingezogen war. Das Land versank in arktischer Kälte, und ich lag hier drinnen gemütlich auf meinem warmen Bett. Ein wunderbares Gefühl.
Ich fühlte mich unendlich behaglich
Ich machte die Lampe aus und schaute zu, wie die Flamme erstarb, ein Schauspiel, das mich immer wieder aufs Neue faszinierte. Ihr Rand flackerte erst weiß, dann orangefarben und schrumpfte schließlich auf eine kleine blaue Zunge zusammen, die zitternd und zischend verlosch. So sehr ich meine Augen danach auch anstrengte, da war nur noch Schwarz, die Dun- kelheit in meiner Hütte war absolut. Ich lauschte dem Knacken des Ofens und schloss meine Augen. Und fiel sofort in einen tiefen Schlaf.
Dies ist eine exklusive Leseprobe aus „Eine Büroklammer in Alaska.“ Überall im Buchhandel – und hier bei uns im Shop.
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