UNTERWEGS AUF FÖHR – Insel der Kapitäne
Unterwegs auf Föhr, Insel der Kapitäne. Eine Reportage von der „grünen Insel“ in der Nordsee. Aufgeschrieben von Stefan Kruecken, Ankerherz.
Alte Steine erzählen die Geschichten, vom Wind schief gestellt und vom Wetter geschliffen, einige von Moos bewachsen, und fast alle mit einem Anker, einem Herz und einem Kreuz verziert, den Symbolen der christlichen Seefahrt. Auf dem Friedhof des Dorfes Süderende, im Westen der Insel, neben dem Backsteinturm der Pfarrkirche „Sankt Laurentii“, sprechen die Steine. Zum Beispiel über Früd Faltings, geboren am 23. Dezember 1783, der 1811 Ingke Olufs zur Frau nahm, die ihm drei Kinder gebahr. 23 Jahre lang führte er ein Schiff aus Kopenhagen und brachte seine Familie zu Wohlstand. So steht es in schwarzen Buchstaben auf weißem Grund, und wer wissen möchte, warum Föhr die Insel der Kapitäne ist, sollte verweilen und weiterlesen.
Vom Segen, den die Seefahrt brachte, ist manches noch zu sehen in den Inseldörfern, deren Namen an Asterix-Hefte erinnern: Klein-Dunsum, Wrixum, Hedehusum. Weiße Kapitänshäuser unter Reet zeugen davon, und manches Gartentor ist aus Walknochen gebaut. Auf allen Inseln, deren Boden es beinahe unmöglich machte, etwas zu ernten, auf denen es an Brennmaterial mangelte, wagten sich die Bewohner hinaus aufs Meer. Aber kaum irgendwo so konsequent wie auf Föhr, dessen Name sich herleitet vom friesischen Wort „feer“, was „unfruchtbar“ bedeutet, 82 Quadratkilometer Strand und Dünen und Land auf 54° 43′ Nord, 8° 30′ Ost, zwischen Sylt, Amrum und den Halligen gelegen, wie in einem großen Schutzbecken.
Wer abends am Strand von Nieblum entlang spaziert, sieht weit über das Watt und in der Ferne die Lichter der Warften brennen. Föhr: Eine Insel trotziger Nordfriesen, die sich gegen die Dänen auflehnten und später wegen der Preußen in Scharen auswanderten und auf deren Flagge bis heute der angenehm renitente Leitspruch steht: „Lewwer duad üs Slaav“, lieber tot als Sklave.
Kapitäne von Föhr: echte Stars
„Noch zu meiner Zeit fuhren alle Männer im Westen der Insel zur See“, berichtet Nickels Peter Hinrichsen, Jahrgang 1939, ein drahtiger Mann mit fein gestutzem Schnurrbart. In Seefahrerkreisen gilt Hinrichsen als eine Autorität. Unter seinem Kommando segelte die „Gorch Fock“, als sie noch der Stolz der Marine war und nicht Teil eines parteipolitischen Schiffeversenkens, vor einigen Jahren ganz nahe an den Hafen der Inselhauptstadt Wyk heran. Ein riskantes Manöver für ein Segelschiff im Wattenmeer – und eines, bei dem Triumph und Spott dicht im Schlick nebeneinander lagen. Zwei Jahre lang hatte Hinrichsen mögliche Veränderungen des Wasserstands beobachtet, die Gezeiten geduldig studiert und analysiert, wann die Durchfahrt der engen Prile möglich war. Mehr als 100 Segler, Fischkutter und Yachten begleiteten die Bark auf dem letzten Abschnitt. Eine Seemeile vor dem Hafen von Wyk gab Hinrichsen den Befehl, Anker fallen zu lassen, was Tausende Schaulustige an der Uferpromenade feierten.
Jeder Dritte fuhr zur See
Mit seinem mutigen Manöver, das manchem auf der Insel als „Jahrhundertereignis“ gilt, hätte sich Nickelsen gewiss auch den Respekt der alten Seefahrer verdient. Ein Kapitän von Föhr zu sein, das bedeutete einst einen Status, wie ihn heute Fußballern aus Brasilien, Autobauer aus Schwaben oder Panflötenprofis aus Peru genießen: Sie galten als Besten ihres Fachs. Mit dem Walfang, der Jagd auf den Rohstoff Tran, hatte für das arme Föhr ein vergleichsweise goldenes Zeitalter begonnen; im 17. und 18. Jahrhundert setzten besonders englische und hanseatische Kompanien auf die Dienste der Inselfriesen, was dazu führte, dass Frauen auf Föhr in den Sommermonaten weitestgehend unter sich blieben. 1750 lebten 5500 Menschen auf der Insel, von denen statistisch beinahe jeder Dritte zur See fuhr, darunter 150 sogar als Kapitäne und weitere 75 als Steuermänner. Nur Jungen, Greise und solche, denen man die gefährliche Reise nicht zutraute, blieben zurück.
Ein System der Selbsthilfe
Was sich nicht mit der oft besungenen Zähigkeit der Friesen erklären lässt (die auch die Nationalsozialisten reklamierten), sondern vielmehr mit der Klugheit eines Pastors namens Richardus Petri, der von 1620 an sechs Jahrzehnte lang in St. Laurentii wirkte. Gleich nach seinem Amtsantritt hatte er damit begonnen, Männer seiner Gemeinde in der Steuermannskunde zu unterrichten. Petri (der selbst niemals ein Schiff geführt hatte) knüpfte an die Ausbildung eine Bedingung: Wer es durch die kostenfreie Privatschule zum Kommandanten oder Steuermann brachte, der sollte seine Kenntnisse später kostenfrei an die Jugend weitergeben. Dieses System organisierter Selbsthilfe, im 17. Jahrhundert so modern wie heute, sorgte für hochqualifizierten Nachwuchs. Früd Faltings, dessen Grabstein noch heute seine Geschichte erzählt, nutzte diese Chance ebenso wie ein gewisser Matthias Peters, der zu einer echten Berühmtheit werden sollte.
Peters erlegte in seiner Laufbahn insgesamt 373 Wale, eine sagenhafte Zahl, die ihm neben Reichtum auch einen Beinamen einbrachte, „den er mit Zustimmung aller annahm“ (wie seine Grabplatte auf dem Friedhof von Süderende informiert): „Matthias der Glückliche“. Die beiden Kronleuchter aus Messing, die er der Gemeinde stiftete, hängen heute noch im Kirchenschiff – und sein Name ist überall auf der Insel präsent, als Inspiration für Fischrestaurants oder Aufkleber an Straßenlaternen.
Dass damals Walfänger, nach heutigem Maßstab Multimillionäre, ihre Kenntnisse weitergaben, dass sie, ganz anders als im Standesleben jener Zeit, mit Menschen jeder Schicht verkehrten, dass man sie dutze, sie sich kaum anders kleideten und verhielten wie normale Matrosen, liegt an einer anderen Besonderheit der Föhringer. „Noch heute kann kann keinen größeren Fauxpas begehen, als seine materielle und geistige Überlegenheit zu zeigen“, meint der Historiker Volkert Faltings, der die Navigationsgeschichte erforscht hat. Was erwartete Angeber? „Schweigendes Nichtbeachten und spöttische Blicke!“
Ein Held in der Brandung
Jahrhundertelang bewährte sich das System der lokalen Wissensweitergabe, bis 1867, als die Preußen das Herzogtum Schleswig annektierten und die Föhrer Navigationsschule verboten. Die Tradition, zur See zu fahren, setzte sich aber in den Familien fort. Als Niels Held, 72, ein hünenhafter Friese aus Wrixum, mit 15 Jahren seine Laufbahn begann, wußte er von seinem Großonkel, der den legendären Fünfmastsegler „Preußen“ befehligte, und drei Onkeln, die als Kapitäne zur See fuhren. „Schon als Kind war ich im Boot unterwegs“, erinnert er sich.
Für einen Einsatz auf der Azoreninsel Flores, der 32 Griechen das Leben schenkte, erhielt Held die höchste Auszeichnung, die von der „Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ (DgzRS) verliehen wird. Er hatte jeden Seemann, der nach einer Strandung des Frachters in einer tosenden Brandung vor der Steilküste festsaß, einzeln gerettet. 32 Männer, 32 Mal unter Gefahr des eigenen Lebens. Nach solchen Details befragt, zeigt sich Held irritiert. „Was ist so besonderes daran? Das hätten Sie doch aus so gemacht!“
Diese Bescheidenheit, dieses Bedürfnis, sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen und solche, die sich wichtig nehmen, besonders unwichtig zu behandeln, ist überall spürbar. Auch nach vielen Besuchen fällt die Freundlichkeit der Bewohner immer wieder auf. Wer durch die Gassen von Nieblum schlendert, dem Inseldorf, in dem ein Reetdachhaus gemütlicher ist als das nächste, wer mit einem Friesentee abends vor dem Kamin hockt, wenn der Wind um die Ecken pfeift, der möge sich auch an die Erlebnisse der Kapitäne von Föhr erinnern und ihre Geschichten lesen. Und auf der Rückfahrt aufs Festland, auf einer dieser flachen Autofähren, extra gebaut sind für das flache Wattenmeer, an einen weiteren Seemann denken.
Mit der Wattfähre bis nach Thailand
An Hans Erich Brathering, einen Kapitän mit Bart und schwarzem Humor, der mit einer solchen Fähre, die ein thailändischer Hotelunternehmer gekauft hatte, vor einigen Jahren bis Gibraltar fuhr. Im Herbst, im Sturm, durch die Nordsee und die gefürchtete Biskaya. Selbst, als in hoher Dünung Treibstoffleitungen der „Raja 1“ verstopften, die Funkanlage ausfiel, den asiatischen Kollegen die Seekrankheit plagte und der Maschinist sein Faible für Hochprozentiges auslebte, blieb Brathering so gelassen, wie es auf Föhr Brauch ist. „Dass es keine Spazierfahrt werden würde, war klar, aber ich freute mich auf das Abenteuer. Meine Familie fährt seit vielen Generationen zur See und ich hatte ich schon früh gelernt, ein Boot zu steuern.“ Schon früh gelernt, das ist nicht übertrieben: Um ans Steuerrad zu gelange, hatte Brathering einen Hocker unter den Füßen.
Dass es die kleine Fähre bis Thailand schaffte, las er später im „Inselboten“, der Heimatzeitung auf Föhr. Eine Urlauberin hatte die ehemalige „Nordfriesland“ erkannt und fotografiert. Bratherins Sehnsucht, die „Raja 1“ wiederzusehen, hielt sich in Grenzen.
„Bei uns auf Föhr ist es ohnehin schöner als auf Ko Samui“, sagt er.
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