Helden der See: Als der Trawler vor Shetland im Atlantik sinkt
Helden der See sind ein besonderes Anliegen von Ankerherz. Ihre Geschichten erzählen wir besonders gerne. Was die Männer und Frauen der RNLI leisten, der britischen Seenotretter, verdient tiefen Respekt. In unserem neuen Buch ÜBERLEBEN IM STURM berichten sie von ihren dramatischsten Einsätzen vor den wilden Küsten Großbritanniens. Lest hier den Auszug einer Geschichte, die vor Shetland spielt. Im Sog der Ocean Way.
Einer der der Helden der See, um die es geht, ist Darren Harcus. Der ehemalige Fischer ist Vormann der RNLI Station Lerwick auf Shetland. Als es rausgeht in den Einsatz, stellt er fest: Es ist „sein“ Trawler, der gerettet werden muss. Für ihn uns seine Kameraden geht es in den nächsten Stunden um Leben und Tod im Nordatlantik.
Wir steigen in die Geschichte ein… Der Seenotretter erzählt:
„Auf den ersten Blick sah es zwar so aus, als sei alles unter Kontrolle. Aber schon nach ein paar Minuten auf dem Schiff war meine Zuversicht gedämpft. Ich begann, mir ernsthaft Sorgen zu machen, denn das Wasser flutete deutlich schneller ins Schiff, als ich es erwartet hatte. Viel schneller, als es die Pumpen lenzen konnten. Auch die zweite Pumpe, die John eingeschaltet hatte, machte keinen Unterschied. Der Wasserpegel stieg unaufhaltsam. John nahm sein Handfunkgerät und rief unsere Kollegen auf dem Kreuzer an.
„Ich denke, wir brauchen noch eine Pumpe“, sagte er.
„Wir besorgen eine vom Hubschrauber und kommen dann wieder längsseits“, antwortete Alan.
Helden der See: Überlebenskampf vor Shetland
Der Pilot brauchte für das Manöver allerdings Wind von vorn. Deshalb musste der Seenotkreuzer für den Transfer etwa eine Meile weiter auf offenes Wasser raus, damit der Hubschrauber genug Platz hatte. Die ganze Aktion würde wohl ein paar Minuten in Anspruch nehmen. Während wir warteten, schauten John und ich uns weiter um: Wie konnten wir den Wassereinbruch stoppen oder zumindest verlangsamen? Wir hatten kaum mit der Suche begonnen, als wir eine erschütternde Entdeckung machten.
Durch die Speigatten strömte Wasser ins Schiff!
Speigatten sind Öffnungen in der Schanz und eigentlich dazu gedacht, Wasser, das bei Sturm mit Gischt oder Wellen überkommt, schnell wieder abfließen zu lassen. Speigatten sind Einbahnstraßen. Das Wasser soll raus und nicht wieder rein.
Das Problem war also gravierender, als wir zu Beginn des Einsatzes gedacht hatten. Als wir die „Ocean Way“ erreichten, lag sie jedenfalls noch nicht so tief. Jetzt waren wir nur wenige Minuten an Bord, und die „Ocean Way“ war so weit abgesackt, dass die Öffnungen unter Wasser lagen. An Deck trieb schon allerhand Kram, Teile der Ausrüstung, Abfall vom Fischen.
Ich war nicht der Einzige, dem die Veränderungen aufgefallen waren. Es musste etwas passieren. Sofort musste etwas passieren.
„Ab sofort bleiben alle Mann an Deck“, sagte ich zur Crew. „Außer mir geht niemand mehr runter.“
Ich drehte mich zu John um: „Sag dem Seenotkreuzer auf UKW Bescheid. Wir sollten so schnell wie möglich die Besatzung runterkriegen.“
Was ich nur noch dem Skipper beibringen musste.
An seinen Job im Ruderhaus gebunden, mit der Steuerung kämpfend und in ständigem Funkkontakt mit der Küstenwache und unserem Boot, hatte er nicht mitbekommen, wie dramatisch sich seine Lage verschlechtert hatte. Ich gab mir alle Mühe, in einem ruhigen Ton zu erklären, was Sache war. Widerwillig ließ er sich darauf ein, wenigstens Roman und Wladimir auf unser Schiff zu übergeben.
Kein zurück mehr
Ich sah mir die Situation unter Deck noch einmal genauer an. An den tiefsten Stellen auf dem Fangdeck stand das Wasser knapp einen Meter hoch und schwappte bereits über den Rand der Luke achtern, unter der die Pumpen arbeiteten.
Wir hatten den Punkt erreicht, von dem es kein Zurück mehr gab.
Ich hastete auf die Brücke zurück, um den Skipper zu alarmieren. Er klammerte sich noch immer an die Hoffnung, dass sein Schiff irgendwie zu retten war. Nach kurzer Diskussion einigten wir uns auf einen Kompromiss.
Alle runter vom Schiff. Nur er und ich blieben an Bord.
Zusammen wollten wir versuchen, Shetland zu erreichen.
Steven bat mich, nach unten zu gehen, um die Lufteinlässe für die Maschine an Backbord zu schließen. Die „Ocean Way“ hatte erst im Jahr zuvor neue Caterpillar-Motoren bekommen. Doch die Rettung kam zu spät. An Backbord stand das Wasser schon bis zum Zwischendeck. Die Verschlussklappen lagen unter Wasser. Alles stand unter Wasser. Der Trawler ging auf Tiefe. Und zwar schnell.
„Alle runter vom Schiff!“, brüllte ich. „Jetzt!“
Oben waren bereits alle in heller Aufregung. Die Männer, die wir von Bord schicken wollten, hatten hektisch ihren Kram zusammengesucht, Rucksäcke, Reisepässe. Jetzt versuchten sie, sich Rettungswesten umzubinden. Den Flüchen nach zu urteilen, war das Stresslevel deutlich angestiegen.
Zurück auf die Brücke. Dieses Mal gab es keine Diskussion mehr. Nur eine klare Ansage.
„Das Schiff ist nicht mehr zu retten. Wir müssen runter“, sagte ich.
Seine Welt verschwindet im Ozean
Stevens Gesicht war anzusehen, wie sehr er litt. Seine Welt war dabei, im Ozean zu verschwinden. In einer merkwürdig stillen See. Er musste eine Entscheidung treffen, vor der jedem Skipper graut.
Das Schiff aufgeben. Alle Mann von Bord.
Aber wir hatten keine andere Wahl. Als er sich das Funkgerät griff, schaute ich mich nach meinen Kollegen um. Ich sah Angst in ihren Gesichtern. Ich wusste, dass nicht alle gut schwimmen konnten. Wir waren es zwar gewohnt, auf dem Meer zu sein. Aber nicht im Meer.
Ich atmete tief durch. Und dann begann ich, die Crew in Richtung Steuerbord zu dirigieren. Ich spürte meinen Puls, ich merkte, wie mein Herz schlug, doch ich musste unter allen Umständen die Fassung bewahren. Diese Männer, meine Kollegen, meine Freunde, sie waren jetzt darauf angewiesen, dass wir sie heil nach Hause brachten.
Oft in Gedanken durchgespielt
Es mag vielleicht komisch klingen, doch wir hatten genau diese Situation oft durchgespielt in Gedanken, nachts auf der Brücke, mit einer Mug Kaffee in der Hand. Wenn wir wirklich mal von Bord müssten, wie würden wir es anstellen? In allen Szenarien, die wir uns zurechtlegten, hatten wir immer ausreichend Zeit.
Zeit, in die Rettungsinsel zu steigen. Auf den Seenotkreuzer zu warten. Vom Helikopter abgeborgen zu werden.
In der Realität dieses Notfalls hatten wir keine Zeit. Null. Wenn der Rettungskreuzer nicht bald zurückkam, blieb uns nur noch eine Option, die ich eigentlich vermeiden wollte: neben einem 24 Meter langen Trawler, den es gerade in die Tiefe zog, ins Wasser zu springen.
Mir kam es tatsächlich schon so vor, als würde ich die Kräfte spüren, die das Schiff immer tiefer in den Wellen sacken ließen. Voraus hatte ich gerade noch beobachten können, wie der Hubschrauber eine Leinenverbindung zum Rettungskreuzer hergestellt hatte, um die dritte Pumpe herunterzulassen. Dieser Plan war Makulatur.
Alle Mann von Bord!
Sie hatten über Funk mitbekommen, dass der Skipper die Order „Alle Mann von Bord“ gegeben hatte. Nun waren sie auf dem Weg zu uns.
Steven hatte die Maschine gestoppt. Das Einzige, was wir jetzt noch hören konnten, war das Donnern des Helikopters, der auf uns zukam. Der Rettungskreuzer lief mit voller Fahrt. Wenn wir Glück hatten, konnten wir einfach übersteigen.
Los, macht schon.
Ich hörte das Brüllen der Maschine, volle Fahrt zurück, als der Kreuzer längsseits kam. Doch im selben Augenblick hörte ich ein lautes Geräusch:
Klunk, machte es.
Unser Seenotrettungskreuzer schien förmlich abzuprallen vom Trawler, und im Nu drifteten die beiden Schiffe wieder auseinander.
Der Trawler sackt weg
Ich hatte keine Ahnung, was passiert war. Nicht nur, dass die Entfernung schnell zu groß wurde, um einfach rüberzuspringen. Ich merkte gleichzeitig, dass die „Ocean Way“ nun noch schneller als zuvor wegsackte. In diesem Moment wusste ich: Es war so weit. Wir konnten nicht mehr länger warten.
„Wir müssen ins Wasser. Der Rettungskreuzer holt uns raus!“, schrie ich. „Rüberspringen ist zu gefährlich!“
Mal abgesehen davon, dass Alan das Boot so schnell nicht wieder in Position bringen konnte. Er musste erst drehen und einen neuen Anlauf nehmen. So viel Zeit blieb uns nicht.
Der Trawler machte ominöse Knackgeräusche, er ächzte und stöhnte, sein Bug hing schon in der Luft. Dann begann er plötzlich zu rutschen, er drehte sich unter unseren Füßen weg.
Die „Ocean Way“ sank.
(…)
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