Kapitän Schwandt: Trümmerland. Erinnerung an den Krieg

Kapitän Schwandt: Erinnerung an den Krieg

Heute ist der 9. November. Heute vor 80 Jahren brannten Synagogen und jüdische Geschäfte. Heute vor 80 Jahren nahm ein entsetzliches Verbrechen seinen Lauf, das wir niemals vergessen dürfen.

Heute, 80 Jahre später, sitzt eine völkische Partei im Bundestag und in allen Landesparlamenten.

Eine Partei, für die das Dritte Reich ein „Vogelschiss“ ist. Eine Partei, deren Mitglieder sich nicht schämen, selbst bei einer Gedenkveranstaltung zu provozieren. Eine Partei, die durch und durch rechtsextrem ist. Eine Partei, die es darauf anlegt, zu hetzen, zu spalten und zu verleumden.

Wir müssen wachsam sein, jeden Tag. Wir müssen die Schande namens AfD weiter mit demokratischen Mitteln bekämpfen, an jedem Tag.

Der 9. November 1938 darf sich niemals wiederholen.

 

Kapitän Schwandt auf dem Nordatlantik

 

Kapitän Jürgen Schwandt, Jahrgang 1936, hat keine Erinnerungen an die „Reichskristallnacht“. An das Dritte Reich und seine Folgen aber kann er sich sehr gut erinnern. Es ist der Antrieb, warum er sich so deutlich geäußert und gegen die neue Rechte Stellung bezogen hat.

Lest hier einen Auszug aus seiner Biographie „Sturmwarnung„. Das Kapitel heißt Trümmerland.

 

Erinnerung an den Krieg, von Kapitän Schwandt

„Meine Geschichte beginnt in den Trümmern von Hamburg, im Arbeiterviertel Sankt Georg, und der Grund, warum ich zur See wollte, lag dort unter den Bergen aus Schutt begraben. Es war 1950, und ich hielt es nicht mehr aus in dieser zerstörten Stadt. Ich träumte vom Leben auf dem Meer, von der Ferne, von feinen Stränden und Städten mit exotischen Namen: Caracas. Hongkong, Rio de Janeiro, je weiter weg, desto besser. Ich lebte in meinen Träumen.

Selbst heute,siebenJahrzehnte später, fällt es mir schwer, über die frühe Zeit meines Lebens zu sprechen. Es kommt so vieles wieder hoch, was ich sorgsam weggeschoben hatte. Es ist so ein Gefühl, als suche man in sich selbst nach einem bösen Geist. Ich spürte eine Ablehnung gegen mein Elternhaus, besonders gegen meinen Vater, einen überzeugten Nationalsozialisten. Ich wollte mit all dem nichts zu tun haben. Ich wollte ein anderes Leben.

Ich wollte raus. Ich wollte weg.

In meinen ersten Erinnerungen fallenBomben, heulen die Sirenen und sind dumpfe Schläge von Explosionen zu hören, 1942. Wir lagen im Luftschutzkeller, in Betten aus Eisen, doppelstockig, ohne Matratzen, es krachte und dröhnte, die Wände wackelten und wir konnten im Schein der Kerzen sehen, dass es von der Decke rieselte. Wir Kinder trugen einen kleinen Rucksack bei uns, darin: Ausweispapiere, Notproviant, etwas Wäsche. In manchen Nächten rannten wir ein halbes Dutzend mal die Treppen in den Keller hinunter, wo es so muffig roch, feucht, wie alte Keller eben riechen.

 

Für den Fall, dass wir verschüttet wurden, lagen Spitzhacken und Schaufeln bereit, damit wir uns selbst ausgraben konnten. In einer Ecke standen Eimer mit Wasser und Feuerpatschen, für den Fall eines Brandes, aber dieser Schutz war eher symbolisch. Eingeschlossen zu sein, wenn Feuer ausbricht, hätte vermutlich das Ende bedeutet. Über solche Dinge macht man sich als Kind keine Gedanken: Angst spürte ich nicht, wenn die Sirenen heulten, auch dann nicht, als eine Bombe ganz in der Nähe einschlug.

Die Schatten am Himmel

Ich war naiv, ein kleiner Junge. Die Furcht kam, als ich die Gesichter der Erwachsenen blickte, in denen ich Angst vor dem Tod erkannte und die mir wie verzerrt erschienen. Das langgezogene Heulen der Sirenen hat mich mein Leben lang begleitet. Gab es igendwo einen Alarm oder mittags um 12 Uhr einen Probealarm der Feuerwehren, lief ein eiskaltes, beklemmendes Gefühl durch meinen Körper. Ich rannte im Geiste in den Keller, mit meinem kleinen Rucksack, durch das Treppenhaus mit den Milchglasfenstern. Dann sah ich wieder die brennenden Häuser der Nachbarschaft, durch die Milchglasscheiben im Treppenhaus. Ich roch das Feuer in diesen Nächten, in denen der Himmel orangefarben schimmerte. Erst mit meinem fünfzigstenLebensjahr ließen diese quälenden Gedanken nach.

Ende 1943 evakuierte man uns. Wir kamen zuerst in den Wiener Wald, danach auf ein Dorf in Bayern, Wildbach, der nächstgrößere Ort ist Deggendorf. Es war Winter, und ich erinnere mich daran, dass wir die Schule nicht besuchen konnten, weil der Schnee hoch lag und wir die fünf Kilometer Fußmarsch nicht schafften. Untergebracht waren wir in einem ehemaligen Erholungsheim der Nazi-Organisation Kraft durch Freude (KdF), mitten im Wald. Das Dorf war einige Kilometer entfernt, und wir Kinder machten uns einen Spaß daraus, auf die Leiter des Postbusses zu springen. Es waren idyllische Monate, trotz des Krieges. Dass die Welt brannte, bekamen wir in Wildbach nicht mit. Frieden, ländliche Ruhe, Abgeschiedenheit. Für uns Kinder war es ein langer Abenteuerurlaub. Wir jagten Kühe über die Wiesen, zogen mit der Schleuder los, und für uns war kein Baum, auf den wir klettern konnten, zu hoch. Auf den Feldern mussten wir nicht mithelfen – wir waren noch zu klein für harte, körperliche Arbeit.

Nur, wer genau hinsah, erkannte die Schatten am Himmel. Wenn Bomber über das Dorf flogen, weit oben, die für uns aber nie eine Gefahr darstellten, denn die Gemeinde war viel zu klein und ohne jede industrielle Anlage, um ein lohnendes Ziel abzugeben. Im Dorf lebten keine Männer, nur die Alten und die ganz jungen waren geblieben, der Rest kämpfte an der Front. Ein Jahr währte dieses Leben auf dem bayrischen Land – dann holte meine Mutter meinen Bruder Jochen, meine Schwester Barbara und mich die Realität des Krieges wieder ein.

Mein Vater war ein ranghoher Nationalsozialist

Mein Vater wurde 1944 an der Ostfront verwundet. Man verlegte ihn in ein Lazarett in Bernburg an der Saale. Er holte seine Familie nach. Meine Mutter, wurde während eines Heimaturlaubs wieder schwanger. Mein jüngster Bruder, er hieß Christian, starb im Alter von sechs Monaten. Ernährungsstörung, sagten die Ärzte. Ich erinnere mich schemenhaft an einen kleinen, weißen Sarg, vor dem wir auf dem Friedhof standen. Unser Wohnung, fünf Zimmer, befand sich in der Adolf-Hitler-Straße. Die Privilegien meines Vaters, hochrangiges Partei-Mitglied und Major der Infantrie, hatten Bestand, obwohl die Versorgungslage schon spürbar schlechter wurde. Dienstmädchen und Kindermädchen halfen meiner Mutter im Alltag.

Mein Vater war bereits 1933 in die NSDAP eingetreten und ein Kriegsheld im Sinne der NS-Propaganda. Er befehligt Voraustrupps bei besonders gefährlichen Kommandos, wenn es darum ging, das Gelände für nachrückende Truppen zu erkunden. Kontakt mit dem Feind war immer zu erwarten. Er hatte an der Ostfront gedient, auf der Krim, war bei der Belagerung und dem Beschuss von Sewastopol dabei gewesen. Zuerst erlitt er einen Unterarmdurchschuss, kehrte an die Front zurück, wurde wieder verwundet. Man zeichnete ihm mit dem Eisernen Kreuz Erster Klasse und der Nahkampfspange aus. Mir haben diese Auszeichnungen nie etwas bedeutet.

 

Nach dem Krieg habe ich meinen Vater oft mit seiner Gesinnung konfrontiert. Er blieb auch nach Ende des Weltbrandes bei seiner Anschauung, und das machte mich wütend und ließ mich verzeifeln. Zu den Dingen, die ich von meinem ersten, selbstverdienten Geld kaufte, gehörte das Buch „Der gelbe Stern“. Ich verdiente 50 Pfenninge in der Stunde, und es brauchte Wochen, bis ich das Geld zusammengespart hatte, doch es war mir wichtig. Ich zeigte das Buch meinem Vater. Die Bilder aus den Konzentrationslagern, die Berge von Leichen, die den zu Skeletten abgemagerten Überlebenden.

Ich wollte Antworten

Ich wollte Erklärungen, ich wollte Antworten von ihm. Wieso hatte er mitmachen können? Wieso hatte er nichts gewusst? Und warumblieb er trotzdem bei seiner Meinung? Wie konnte all dies sein?

„Das sind gestellte Bilder“, erklärte er schroff. „Das ist Propaganda der Alliierten“.

Er wollte nicht wahrhaben, dass er für die verkehrte Sache gekämpft hatte. Er leugnete die Realität, er tat so, als habe sie es nie gegeben. Mit seiner Ignoranz nahmen auch meine Enttäuschung und meine Wut zu. Unsere Auseinandersetzungen wurden immer härter, bis es schließlich fast zu körperlichen Konflikten kam. Mir wollte und will bis heute auch nicht einleuchten, dass die Zivilbevölkerung nichts wusste. Wenn die Nachbarn abgeholt wurden, wenn wieder eine Wohnung leerwurde, wenn Arbeitskollegen einfach verschwanden. Das ist der Vorwurf, den ich der Generation meines Vaters mache.

Alles wurde verdrängt, wenig aufgearbeitet.

 

Das Buch „Sturmwarnung“ gibt es versandkostenfrei bei uns im Shop und überall im Buchhandel. Kapitän Schwandt hat das Hörbuch selbst eingesprochen.

Ihr möchtet über spannende Dinge vom Meer auf dem Laufenden bleiben? HIER könnt Ihr Euch zur „Post vom Meer“ anmelden – dem kostenlosen Newsletter von ANKERHERZ. 

0 comments