KAPITÄNE ERZÄHLEN: Der Untergang von Ocean City

Der Untergang von Ocean City. Ich sah den Film „The finest hours“, ein Hollywood-Spektakel über eine der heroischsten Rettungsaktionen in der Geschichte der amerikanischen Küstenwache. Darin bricht ein Öltanker auseinander. Ich musste sofort an diese echte Geschichte eines deutschen Seemanns denken. Kapitän Thomas Marquardt erzählt.

Dies ist die gekürzte Form der Geschichte „Der Untergang von Ocean City“ aus unserem Klassiker ORKANFAHRT.

„Nur ein Funke hätte uns allen das Leben gekostet, ein einziger Funke, als unser Bug abriss und gegen das Achterschiff der „African Queen“ knallte. Tausende Tonnen Stahl schlugen in hoher See gegeneinander, es stank nach Gas, und eigentlich hätte es zur Explosion kommen müssen. Fast ein Wunder, dass wir nicht alle in einem Feuerball vor Ocean City starben.

Ich fuhr damals als Matrose auf der „African Queen“, einem Tanker von 22.000 Tonnen, was Ende der fünfziger Jahre als großer Pott galt. Wir kamen von Cartagena in Kolumbien, randvoll mit Schweröl für Philadelphia an der Ostküste der USA. Es war keine besinnliche Reise gewesen, schon vor dem großen Unglück nicht. Ein polnischer Matrose hatte versucht, unseren Bootsmann im Schlaf zu erstechen. Zum Glück hörte Letzterer, wie seine Kabinentür entriegelt wurde, wachte auf und verprügelte den Angreifer. Der Pole wurde im nächsten Hafen abgesetzt. Seit der Karibik schüttelte uns ein Sturm nach dem anderen, mit elf Windstärken und entsprechender Dünung.

Unser Kapitän hieß Danielsen, ein groß gewachsener, hagerer Norweger mit krummer Nase, der den größten Teil seiner fast 50 Jahre auf See verlebt hatte. Nach mehr als 60 Stunden Einsatz war er in die Koje gegangen – mit dem ausdrücklichen Befehl an den Zweiten Offizier, ihn zu wecken, wenn der Kurswechsel anstand: Auf Höhe eines Feuerschiffs musste die African Queen nach Backbord in den Delaware River abdrehen.

Die African Queen auf falschem Kurs

Die erste Fehlentscheidung, die in die Katastrophe führte, wurde am 30. Dezember 1958, gegen 2 Uhr nachts getroffen. Der Sturm ließ allmählich nach, schüttelte das Schiff aber noch gehörig und kam aus Nordwest, was in Kombination mit der Strömung aus Süden gefährliche Seen ergab. Der Zweite Offizier, ein unerfahrener, junger Norweger glaubte, im tosenden Atlantik die Kennung des Feuerschiffs gesehen zu haben. Was er tatsächlich sah? Vielleicht einen Frachter oder ein Fischerboot. Jedenfalls war es nicht die Kennung des Feuerschiffs. Er änderte den Kurs – ohne Kapitän Danielsen zu wecken. „Lasst den Alten lieber ausruhen“, soll er gesagt haben.

So lief die African Queen auf falschem Kurs durch Nacht und Sturm, ohne dass man auf der Brücke etwas davon bemerkte. Denn auch der Erste Offizier, der inzwischen seinen Dienst angetreten hatte, versäumte es, die Position zu überprüfen. Mehr als eine Stunde verging, bis der Kapitän auf die Brücke kam. „Wann haben wir das Feuerschiff gesehen?“, fragte er, untersuchte die Seekarte und erstarrte. Jeden Moment konnten wir auf Untiefen stoßen! Sofort ließ er das Ruder hart Steuerbord legen – in der Dunkelheit und der aufgeschäumten See war wenig zu erkennen. Die genaue Position hätte sich zwar durch eine Funkpeilung feststellen lassen, aber dafür blieb keine Zeit.

Während des Manövers – wir liefen ungefähr zwölf Knoten – spürte man ein heftiges Rucken im Schiff. Mit einem Mal lag die „African Queen“ ganz anders in der See. In den Mannschaftsunterkünften wurde jeder wach, weil ein Seemann den Rhythmus der Wellen im Unterbewusstsein spürt und merkt, wenn etwas nicht stimmt. In der Tat, etwas stimmte ganz und gar nicht: Das Schiff war auf eine Sandbank gelaufen.

Auf der Wellenkrone schwappte Schweröl

Kapitän Danielsen wies den Funker an, eine Meldung abzusetzen: Er werde versuchen, aus eigener Kraft wieder freizukommen. Er dachte wohl, die „African Queen“ liege auf Schlick und Schlamm. Etwa eine Viertelstunde dauerten die vergeblichen Bemühungen, sich mit Vor- und Rückwärtsmanövern zu lösen. Und dann hörten alle an Bord ein gemeines Geräusch: ein Knarren, ein Krachen von Stahl.

Wir Matrosen waren achtern an Deck gegangen. Der Morgen dämmerte bereits, und ein feiner Lichtstreifen erhellte den Horizont. Obwohl der Wind recht heftig blies, spürten wir, dass sich das Schiff nun gar nicht mehr bewegte. Seltsam fest lag es nun, wie festgezurrt an einer Pier. Wir sahen uns fragend an. Was war los? Dann traf uns die erste Welle, auf deren Krone Schweröl mitschwappte.

Etwa hundert Meter vor uns, unmittelbar vor den Aufbauten, war die „African Queen“ auseinandergebrochen, als habe sie ein Riese in zwei Teile geknickt. Der Tank des Vorschiffs leckte stark, und es dauerte wenige Minuten, bis eine klebrige Ölmasse das Schiff bedeckte. Der Gestank nahm einem den Atem. Außerdem roch es stark nach Gas. Wir können von Glück sagen, dass der Wind noch in Sturmstärke wehte. In ruhigem Wetter wären wir vermutlich sofort in die Luft geflogen. Die Glut einer Zigarette hätte genügt.

„Wir sind auseinandergebrochen!“

Noch immer hatten wir Matrosen keinerlei Order, was zu tun war. Rettungswesten trugen wir nicht, denn die Dinger waren so dick, dass man darin nicht arbeiten konnte. Dann sahen wir, dass der Funker angelaufen kam, ein blonder Däne, Anfang 20. Er schrie: „Wir sind auseinandergebrochen!“ – als ob wir auf die Idee nicht schon selbst gekommen wären -, und begann damit, einen Drachen steigen zu lassen, an dem sich eine Antenne befand. Merkwürdig, dachte ich noch, warum ist der nicht auf der Brücke?

Minuten später erschien dann der Erste Offizier, endlich mit einem Lagebericht. Zwar sei das Vorschiff abgebrochen, doch das Achterschiff sei völlig intakt. Die Schotten hätten gehalten. Er machte uns ein Angebot: Jeder, der in den nächsten Stunden an Bord bliebe, um beim Schleppen des Achterschiffs zu helfen, erhalte einen Bonus von tausend Dollar zur Heuer.

Nun muss man sich vorstellen: An Bord eines Öltankers, der aus zwei Teilen besteht, auf dem es stark nach Gas riecht und das Schweröl im Sturm über Deck klatscht, antwortet man auf eine solche Frage: „Ist gut, okay.“ Aus heutiger Sicht kaum zu erklären, aber damals war man abenteuerlustig, sicher auch naiv – und tausend Dollar waren eine Menge Geld. Der Erste Offizier nickte und marschierte zurück in Richtung Brücke.

Ich wurde als einer der letzten vom Boot geholt

Was noch niemand ahnte: Unsere desolate Situation sollte sich in den nächsten Minuten stark verschlechtern, weil das Vorschiff nun leer gelaufen war, Auftrieb bekam und sich hob. Der Steven des Vorschiffs drehte sich nun – und knallte im Rhythmus der Wellen gegen unsere Bordwand! Verzweifelt begannen wir Matrosen, sämtliche Trossen und Fender, mit denen das Schiff sonst festgemacht wird, als provisorische Puffer an die Bordwände zu hängen. So wollten wir verhindern, dass Funken schlugen.

Kurz darauf kam Kapitän Danielsen angelaufen. Mit wütendem Gesicht erkundigte er sich, ob wir den Funker gesehen hätten. Ja, antworteten wir, der stehe auf dem Schornsteindeck und hantiere mit einem Drachen herum. Danielsen eilte nach hinten und fauchte den Mann an: „Haben Sie SOS gegeben?“ Der Funker verneinte.

Den Anblick, wie ihn Danielsen hinten am Kragen packte und vor sich her zur Brücke schob, werde ich nie vergessen. Danielsen hatte – als der Bug sich vor knapp zwei Stunden verselbständigte – den SOS-Befehl in die Funkerkabine gerufen. Dem Funker aber schien die Lage vorne auf der Brücke zu gefährlich, deshalb war er Drachensteigen gegangen. Dass es Kapitän und Funker schafften, sich entlang der von Wellen und Öl überspülten Laufbrücke zurück zur Kommandobrücke zu kämpfen, war eine bemerkenswerte Leistung – und wahrlich nicht ungefährlich.

 

Es dauerte nicht lange, bis ein Hubschrauber der U.S. Coast Guard am Himmel auftauchte. 7.58 Uhr, so stand hinterher in der „Washington Post“ – die Geschichte zierte am 31. Dezember 1958 die Titelseite -, wurde das Mayday in Cape May, New Jersey, registriert.

Ich wurde als einer der Letzten vom Boot geholt. Alles lief reibungslos, und als der Hubschrauber am Strand von Ocean City aufsetzte, fühlte ich mich unglaublich erleichtert. Hunderte Schaulustige hatten die Bergungsaktion beobachtet und mit Beifall begleitet. Um 11.46 Uhr waren alle gerettet, und in der Baltimore Sun wurde vermerkt, dass sogar Bordmaskottchen Napoli, ein weißer Mischlingsrüde, in Sicherheit war.

„Sie waren auf dem Unglücksschiff?“

Wir bekamen Decken, warme Suppe, sogar hausgemachten Früchtekuchen brachte man in der Turnhalle vorbei, in der man uns einquartiert hatte. Wenn die Leute von Ocean City geahnt hätten, was noch auf ihre Stadt zukommen sollte, hätte es für uns statt Früchtekuchen ordentlich Ärger gegeben: Eine furchtbare Ölpest stand bevor, denn auch das Achterschiff leckte.

Wenn ich heute die Artikel von „Washington Post“ bis „Philadelphia Inquirer“ lese, fällt mir auf, dass eine Ölkatastrophe mit keiner Zeile erwähnt wurde – und dies bei einem havarierten Tanker unmittelbar vor einem wunderschönen Strandabschnitt. Dass in allen Zeitungen Kapitän Danielsen mit den Worten zitiert wird, das Unglück sei ohne jede Vorwarnung geschehen und die „African Queen“ einfach auseinandergebrochen. Ebenfalls interessant.

Der Käpt´n verliert das Patent

In der Seeamtsverhandlung konnte er sich natürlich nicht herausreden. Er wurde zum Ersten Offizier zurückgestuft. Dem Zweiten (der noch in den Tagen danach völlig verstört wirkte) und Ersten Offizier nahm man ihre Patente wegen des Feuerwerks von Verfehlungen ganz ab, und auch der Drachen steigen lassende Funker musste seine Karriere beenden, zumindest erzählte man sich das.

Viele Jahre später landete ich auf einer Urlaubsreise in Chicago O’Hare und kam mit einem Offizier der Einwanderungsbehörde ins Gespräch. Als er sagte, er stamme ursprünglich aus Ocean City, erzählte ich ihm meine Story. Er starrte mich entgeistert an und fragte: „Sie waren auf dem Unglücksschiff?“ Ich fürchtete schon, kein Visum zu erhalten. Dann erzählte er, was aus der Stadt wurde, nachdem das Schweröl die Strände verseucht hatte. Kein Tourist kam mehr nach Ocean City, und es sollte zehn Jahre dauern, bis die letzten Folgen der Havarie beseitigt waren. Hunderte, Tausende verloren ihre Jobs, das Seebad verkümmerte. Seine Familie, erzählte der Grenzbeamte, habe ihr Haus verkaufen müssen. Zu einem Spottpreis, denn die Immobilienpreise waren ins Bodenlose gefallen. Der Untergang der „African Queen“ wurde zum Untergang einer kleinen Stadt.

Ich war damals nur Matrose, aber ich fühlte mich schlecht, als ich die Geschichte hörte. Wie viele Lebenswege in dieser Nacht eine andere Abzweigung nahmen?

 

Kapitän Thomas Marquardt, 1936 in Danzig geboren, kam zur Seefahrt, weil er nach dem Krieg keine Bäckerlehre antreten wollte. Nach der Schiffsjungenschule arbeitete er sich in der Bordhierarchie hoch und machte 1964 sein Kapitänspatent. 1970 beendete der zweifache Vater seine Laufbahn, als ihm „der Beruf keinen Spaß mehr machte“. Er wurde Niederlassungsleiter einer Großspedition. Marquardt lebt in Lübeck.

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