Monsterwelle vor Borkum: Das Unglück der Alfried Krupp
Monsterwelle vor Borkum. Am Neujahrstag 1995 kommt es vor der Insel Borkum zu einem tragischen Unglück. Der Seenotrettungskreuzer Alfried Krupp wird im Einsatz von einer Monsterwelle getroffen. Zwei Seenotretter, Vormann Bernhard Gruben und Maschinist Theo Fischer, verlieren ihr Leben.
In diesem Beitrag berichtet Wolfgang Gruben, Bruder des verunglückten Vormanns, von den Ereignissen der Nacht. Gekürzter Auszug aus unserem Buch MAYDAY, mit dem wir der mutigen Arbeit der Männer und Frauen ein Denkmal setzen wollen.
Ich stamme aus einer Familie von Fischern, und weil es sich so gehörte, folgte ich der Familientradition. Eine andere Tradition besagt, dass wir Grubens uns als Seenotretter einsetzen. Schon mein Großvater war dabei, und mein Vater Arnold Gruben diente vierzig Jahre lang als Vormann. Die Tätowierung auf meinem Unterarm – zwei Hände, die vor untergehender Sonne ineinander greifen – ist nicht nur Zierde, sondern hat für mich eine wichtige Aussage: Wir helfen, wir packen mit an. Ich selbst bin seit dem Sommer 1969 mit von der Partie, der damalige Vormann sprach mich an, weil er Unterstützung brauchte. Per Handschlag willigte ich ein.
Ich wohne in der Nähe der Anlegestelle und gehöre zu jenen, die mit dem Rad zur Arbeit fahren können. Unterwegs kann ich bei den anderen Jungs an die Fensterscheiben klopfen: „Geiht wieder los!“ Unser Gebiet ist die Nordsee rund um die Insel Spiekeroog und bis Wangerooge, und wir haben gut zu tun: Fischer mit Netz in der Schraube, Segler in Seenot, wir transportieren viele Kranke.
Einmal fuhren wir eine kranke Frau bei zwölf Beaufort von Spiekeroog herüber, weil der Hubschrauber nicht starten konnte. Der Wind war so heftig, dass der Weihnachtsbaum, der traditionell den Hafen ziert, davonflog, diese Nacht werde ich nie vergessen. Ich bin sicher: Die junge Patientin, die einen Ritt wie in einer Achterbahn hinter sich brachte, auch nicht.
Katastrophe vor Borkum
Die Seenotrettung hat mir immer Freude bereitet und meinem Leben Sinn gegeben, doch wegen ihr habe ich auch die dunkelsten Stunden erlebt. Es war die Zeit, als ich auch überlegte aufzuhören: Als mein jüngerer Bruder Bernhard auf See blieb. Ein schweres Unglück auf dem Kreuzer „Alfried Krupp“ riss ihn, Vater von fünf kleinen Kindern, aus dem Leben. Maschinist Theo Fischer, der ebenfalls ertrank, hinterließ drei Kinder.
Das Unglück zählt zu den schlimmsten in der Geschichte der deutschen Seenotrettung und hat die Menschen an der Küste lange beschäftigt. Für unsere Familien war es eine Katastrophe.
Was in der Nacht des 2. Januar 1995 geschah, wurde später aufgearbeitet und dokumentiert. Ein schwerer Orkan war mit elf Stärken über die Nordsee gezogen, und einige Schiffe hatten Probleme gemeldet. Am ärgsten traf es einen Frachter aus Norwegen, der vor der Insel Texel in Schwierigkeiten geraten war. Alle Seeleute konnten gerettet werden, doch beim Hilfeversuch wurde ein niederländischer Seenotretter von einer Welle von Bord gespült. Eine Rettungsaktion wurde eingeleitet, mit Schiffen aus den Niederlanden und, auch die „Alfried Krupp“ meines Bruders lief sofort aus. Es gelang den Einsatzkräften, den Mann zu orten und zu bergen – er hatte unwahrscheinliches Glück gehabt. Alle Schiffe steuerten ihre Heimathäfen an, der Einsatz war abgeschlossen.
Um 22.14 Uhr, die „Alfried Krupp“ befand sich nordwestlich vom Seegebiet Hubertgatt, riss der Funkverkehr zur Seenotleitung in Bremen ab. Sechs Minuten später war nur noch ein „Mayday, Mayday, Mayday“ zu hören, ein Notruf, abgesetzt durch ein Handfunkgerät.
Dann herrschte Stille.
Es war geschehen, wovor sich alle Seeleute fürchten, das schlimmstmögliche Szenario. Das Schiff war von einer Grundseeerfasst worden. So nennt man extreme Brecher, die entstehen, wenn der Sturm Wellen aus tiefem Wasser auf flachen Küstengrund schiebt. Die Gewalt dieser Welle ließ die „Alfried Krupp“, komplett durchkentern. Mein Bruder Bernhard stand – von Leinen gesichert – auf der Backbordseite des Fahrstandes. Theo Fischer war auf dem Weg in die Maschine, während Rettungsmann Bernhard Runde unter Deck war. Er hatte sichbeim Einsatz im Gesicht verletzt.
Monsterwelle vor Borkum
Der Kreuzer setzte kieloben mit voller Wucht durch, richtete sich aber wieder auf. Sein Mast war abgeknickt, die Reling eingedrückt. Teile der Ausrüstung hatten sich in die Decke gebohrt. Die Scheiben: eingeschlagen, die Elektronik: lahmgelegt. Beide Seitenmotoren schalteten sich ab, auch die Mittelmaschine fiel aus. Der Kreuzer trieb ohne Antrieb und Elektrik in der hohen Dünung.
Von Theo Fischer war nichts mehr zu sehen. Eine Welle hatte ihn hinfort gespült. Er hatte sich nur kurz abgeschnallt, für einen Kontrollgang in die Maschine – dies wurde ihm zum Verhängnis. Mein Bruder hatte sich beim Durchkentern verletzt, ebenso wie Rettungsmann Dietrich Vehn im unteren Fahrstand, der sich das Fußgelenk gebrochen hatte. Die Männer setzten einen Notruf ab und schossen Seenotsignalraketen in den Sturmhimmel.
Eine Rettungsaktion lief an, und um 23:50 Uhr entdeckte ein Hubschrauber der Marine den Havaristen. Die Männer gingen aufs Vorschiff und versuchten, die Windenschlinge zu greifen, die von der Hubschrauberbesatzung heruntergelassen wurde. Doch die Wellen waren zu hoch, die Rollbewegungen des Schiffs zu heftig. Das Schiff legte sich zeitweise mit hundertGrad auf die Seite. Es war aussichtslos. Vom Vorschiff kämpften sich die Männer wieder zur Brücke.
Mein Bruder machte sich als Letzter auf den Weg. Dabei wurde er von einer großen Welle mitgerissen. Das Lichtsignal seiner Rettungsweste war kurz zu sehen, dann verschwand er in der See.
Die schwere Nachricht
Nach einiger Zeit waren deutsche und niederländische Seenotkreuzer vor Ort. Der Besatzung des Kreuzers „Otto Schülke“ gelang es, eine Leinenverbindung herzustellen, sie schleppte die „Alfried Krupp“ nach Eemshaven in die Niederlande. Auf der Nordsee versuchten Seenotretter und Einheiten von Marine, Zoll und Bundesgrenzschutz meinen Bruder und Theo Fischer zu finden. Auch die Fischer unseres Heimatortes Neuharlingersiel liefen mit ihren Kuttern aus, um zu suchen.
Am Abend des 4. Januar stellte man die Suche ein. Es gab keine Hoffnung mehr.
Ich wusste schon in der Nacht des Unglücks, dass Bernhard verloren war, nach dem Anruf der Seenotleitung, gegen 3 Uhr morgens. Ich fühlte mich wie betäubt. Mit dem Rad bin ich zu meiner Schwägerin gefahren, das war so unheimlich schwer, das tat so weh, ihr die Nachricht zu überbringen. Mein Vater, damals 80, wollte es nicht glauben. Dann habe ich meine Geschwister informiert. Ich bin der Älteste von acht, einer musste es machen. Tagelang war ich hinterher auf Null.
Natürlich denke ich manchmal an meinen Bruder, wenn ich in einem Sturm auslaufe. Aber Angst? Angst habe ich nicht. Wer Angst hat, der darf nicht rausfahren. Ich habe zwei Sätze geprägt, die zu einer Art Leitspruch der Gesellschaft wurden.
Wir können das. Wir machen das.
Wolfgang Gruben, Jahrgang 1940, kam in Neuharlingersiel auf die Welt. Wie viele Männer im Ort und in seiner Familie wurde er Fischer und fuhr auf Trawlern hinauf bis zu den Shetlandinseln und nach Norwegen. 1963 machte er sein Kapitänspatent, heuerte bei der Spiekeroog-Reedereian und arbeitet seit 1969 ehrenamtlich für die Seenotretter, seit 1998 ist er Vormann. Für seine Verdienste erhielt er das Bundesverdienstkreuz am Bande. „Wer die stürmische See kennt, weiß wie viel Mut und Können nötig sind, um im Notfall Menschen zu retten“, hieß es in der Laudatio. „Wer sich da raus wagt, setzt sein eigenes Leben aufs Spiel, um anderen zu helfen. Dem gebührt allerhöchste Anerkennung. Und kaum jemand weiß, dass das zum Großteil ehrenamtlich läuft.“ Wolfgang Gruben lebt in seinem Heimatort.
1997 benannte die DGzRS zwei Seenotkreuzer zu Ehren der verunglückten Retter. Am Hafen von Neuharlingersiel haben die Freunde Bernhard Grubens eine Holzbank aufgestellt. Die Widmung lautet: „Einer kam nicht zurück.“
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