Seemannsdiakon Sturm: Die Seeleute der Ukraine

In dieser Kolumne von Fiete Sturm, dem Seemannsdiakon von Hamburg-Altona, geht es um die Seeleute der Ukraine. Die Auswirkungen des Krieges waren in dieser Woche in der Seemannsmission an der Wasserkante zu spüren.

Es ist Donnerstag, der 24.02.2022. Putins Armee hat am frühen Morgen die Ukraine überfallen. Ich will mich gerade auf den Weg zu einer Fortbildung in der Speicherstadt machen, als sich meine Kollegen aus der Seemannsmission melden: „Ein ukrainischer Seemann steht bei uns aufgelöst in der Lobby und kommt nicht mehr nach Hause. Der Flughafen in Odessa hat wegen der Angriffe den Betrieb eingestellt.“

Sorgen um die Familien

Wenig später kommen noch drei weitere, junge angehende Schiffsoffiziere hinzu, denen es ähnlich ergeht. Die Seeleute der Ukraine haben Sorge um ihre Familien daheim. Die Kommunikation via Internet und Telefon ist unzuverlässig und fällt immer wieder aus. Einer von ihnen nimmt Kontakt Verwandten auf, die hier in Deutschland leben, und fährt erst einmal zu ihnen. Zwei weitere fliegen am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe nach Warschau, um von dort aus den Weg nach Hause zu finden. Yegor, der letzte der kleinen Gruppe, verbleibt bei uns im Haus, bis sich auch für ihn eine halbwegs sichere Reisemöglichkeit ergibt.

Ihnen allen ist gemein, dass sie vom umfassenden Vormarsch der russischen Truppen überrascht sind. Dass Putin den Befehl zum Angriff auf die umkämpften Gebiete im Osten geben könnte, hatten sie durchaus erwartet. Aber dass innerhalb eines Tages Panzer auf Kiew zurollen und Raketen sogar im Westen des Landes niedergehen? Nein, damit haben sie nicht gerechnet!

Erst Corona, jetzt der Krieg

Das Schlimmste aber ist für Yegor, der eigentlich anders heißt aber anonym bleiben will, nicht zu wissen, wie es seiner Familie geht. Er verfolgt die Nachrichten und hört von den ersten zivilen Opfern in seiner Heimatregion.

Unsere Gespräche sind knapp und auf das Angebot, sich etwas mit mir zu unterhalten, geht er nur halbherzig ein. Ich nehme es ihm nicht übel. Schließlich geht es hier nicht um mein Ego als Seelsorger, sondern um seine Bedürfnisse. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen kann, ist meine eigene Betroffenheit. Also erkläre ich ihm, wie er mich immer erreichen kann und rate ihm – nichtsdestotrotz – zwischendurch mal zehn Minuten Zeit für sich zu nehmen; den Kopf etwas frei bekommen.

 

Im Anschluss setze ich mich selbst ein paar Minuten hin und folge meinem eigenen Rat. Ich lasse die Geschehnisse der letzten Tage Revue passieren. Nach dem Abflug der kiribatischen Seeleute, Corona-Chaos und insgesamt drei Mal Sturmflut-Hochwasser innerhalb weniger Tage nun auch noch Putins Krieg. Ich kann mich über vieles beklagen. Aber Langeweile gehört sicher nicht dazu.

Keine Langeweile in der Seemannsmission

Meine Gedanken sind auf vielen Schiffen, auf denen Seeleute der Ukraine mit Kollegen aus Russland arbeiten und vor allem leben. Wie werden sie die kommenden Tage und Wochen verbringen? Wird es Konflikte an Bord geben?

Ich merke, wie sauer ich werde. In den letzten Jahren hat Putin diesen Moment kalt und berechnend vorbereitet. Und die ganze Welt konnte zuschauen, aber hat sich nicht wirklich darauf vorbereitet.

Ich atme tief durch und schüttele diese Gedanken ab.

Da ist nichts, was ich jetzt ändern kann. Meine Wut und Hilflosigkeit kann ich zwar für einen Moment zulassen und sie wahrnehmen, aber ich muss sie dann auch wieder zur Seite legen dürfen. Ich will niemand von diesen wütenden Menschen sein, die nicht mehr aus diesen Gefühlen rauskommen.

Stattdessen entscheide ich mich auf das zu konzentrieren, was ich ändern kann. Zum Beispiel für Menschen wie dem Seemann Yegor – aber auch seine russischen Kollegen – da zu sein und ihnen zu helfen diese schwierige Zeit durchzustehen. Denn wo es welche gibt, die uns voneinander trennen, muss es auch welche geben, die uns wieder zusammenbringen.

Aus dem Hamburger Hafen

Euer Fiete Sturm

 

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