Starke Frauen mit Ankerherz: die Seenotretterin Birgit Heinze

Birgit Heinze ist Seenotretterin und der einzige weibliche Vormann der DGzRS. Regelmäßig rückt die Seenotretterin mit der Crew der Station Geltung an der Ostsee aus, um Menschen in Not zu helfen. Manchmal auch Kindern, die zu weit hinaus gerudert sind. Dies ist ihre Geschichte. Ein exklusiver Auszug aus unserem Buch MAYDAY, mit dem wir den deutschen Seenotrettern ein Denkmal setzen möchten.

Als der Mann sieht, wie seine Kinder abtreiben, setzt sein Verstand aus. Er reißt sich Hose und Schuhe vom Leib, springt in die Ostsee und schwimmt hinter den zwei bunten Gummibooten her, die erschreckend schnell davondriften. Die Kinder sind sieben, zehn und zwölf, tragen nur Badesachen und haben ihre Paddel bereits verloren. Ihr Vater denkt nicht lange nach und überschätzt seine Kräfte: Der Wind geht ablandig, er bläst mit Stärke vier, niemand könnte die Kinder jetzt noch einholen.

Die Seenotretterin im Einsatz

Panik beherrscht viele Menschen, denen wir in der Flensburger Förde zu Hilfe eilen. Hier sind viele Urlauber unterwegs, Sportsegler und Surfer, ohne Erfahrung mit Wind und Strömung. Für uns Freiwillige vom Rettungsboot Jens Füerschipp in Gelting heißt das: Ruhe bewahren. Oft reichen schon ein paar Handgriffe und Ratschläge, um die Situation in den Griff zu bekommen.

Das Buch der Seenotretter: MAYDAY.

 

So ist es bei abtreibenden Booten besser, uns zu benachrichtigen und an Land zu warten, statt wie der Familienvater hinterherzuschwimmen. Zum Glück haben andere Urlauber die Szene beobachtet, und die Seenotleitung wird informiert. Ich arbeite in Flensburg als Kranken­schwester, doch an diesem Tag bin ich zu Hause in Bereitschaft – nach 90 Sekunden klingelt mein Handy. Kurz darauf treffe ich zwei weitere Retter am Geltinger Anleger und mache die Leinen los, die „Jens Füerschipp“ pflügt durch die Förde.

Wenn wir die Hafenausfahrt passieren, muss ich oft an jenen Segler denken, der an dieser Stelle rote Leuchtraketen abfeuerte, direkt vor unseren Augen. Seine Maschine stand still, und er traute sich bei Wind und hoher Welle nicht durch die enge, steinige Zufahrt. Natürlich haben wir ihn ins Becken geschleppt – wirkliche Gefahr bestand nicht, doch auch solche Einsätze gehören zu unserem Alltag.

 

Oder die Besatzung eines Bootes, das im flachen Wasser festsaß – keine 100 Meter vom Ufer entfernt. Wir haben unsere Überlebensanzüge angelegt und die »Schiffbrüchigen« zu Fuß gerettet. Aber auch hier gilt: Ein Skipper soll nicht zögern, uns zu rufen, sondern wissen, dass wir in jeder Situation helfen.

Über der Förde ziehen sich dunkle Wolken zusammen, doch das helle Gummiboot leuchtet uns den Weg. Wir kommen rechtzeitig. Die Kinder sind blass, zittern vor Kälte und Furcht. Sie haben sich schlau angestellt: Alle drei sind in ein Boot gekrochen und haben das andere dem Wind überlassen, so blieben sie zusammen und konnten sich gegen­seitig wärmen. Salzwasser schwappt in das bunte Gefährt, von dem nun drei kleine Geister auf die Jens Füerschipp klettern.

Der Vater war entkräftet in den Wellen

Kurz darauf entdecken wir auch ihren Vater, völlig entkräftet kämpft er mit den Wellen. Für Fälle wie ihn hat unser Rettungsboot eine Bergeluke an der Seite, durch die ein Mensch nahezu waagerecht aus dem Wasser gezogen werden kann. Früher starben Menschen manchmal während der Rettung. Wenn das eiskalte Blut aus den Gliedmaßen zum Herzen strömt, kommt es zum Herzstillstand. Darum versucht man, Unterkühlte möglichst waagerecht zu retten. Dieser Schwimmer aber ist nur leicht unterkühlt. Er hat schon begriffen, dass es keine gute Idee war, mit dem Wind um die Wette zu schwimmen.

 

 

Es gibt auch Einsätze ohne glücklichen Ausgang. Vor einigen Jahren ereignete sich nicht weit von hier ein schrecklicher Unfall: Ein Pilot stürzte mit seinem Sportflugzeug direkt in die Förde. Ich stand gerade mit dem Staubsauger im Flur, als mein Mann den Kopf durch die Tür steckte und sagte: »Du musst los, hier ist ein Flugzeug abgestürzt.«

Das klang so absurd, dass ich es zunächst gar nicht fassen konnte – und beinahe schon mit dem Staubsaugen fortfahren wollte. Dann zog ich aber doch meine rote Jacke an und war nach zehn Minuten am Bootsanleger. Die ganze Mannschaft glaubte an einen Scherz oder an eine Übung, bis wir an der Unglücksstelle die ersten Wrackteile treiben sahen.

Als das Flugzeug abstürzte

Es begann ein Großeinsatz, der von einem unserer Seenotrettungskreuzer koordiniert wurde. Retter, Polizei und Sportboote fuhren systematisch das Absturzgebiet ab, in gleichmäßigem Abstand zum »Nachbarn«, und verständigten sich über Funk oder per Zuruf. Bis zum späten Abend tauchten immer neue Trümmer auf. Alle fünf Insassen des Fliegers wurden geborgen, sie waren schon beim Aufprall ums Leben gekommen. Die Urlauber hatten einen harmlosen Rundflug gebucht, bis heute weiß man nicht, warum sie sterben mussten. Ihre Schicksale haben uns alle erschüttert.

Die Familie mit den Kindern im Schlauchboot macht auch im Folgejahr Urlaub in der Gegend und besucht uns manchmal am Tag der Seenotretter; sie denken an uns, was nicht selbstverständlich ist. Vielleicht wären die drei ohne uns irgendwo auf der dänischen Seite an Land getrieben worden und nicht auf die offene Ostsee hinaus. Vielleicht hätten sie es auch nicht überlebt.

Aber das muss ich ihnen ja nicht unbedingt erzählen.

Birgit Heinze, Jahrgang 1963, machte zunächst in ihrer Heimatstadt Hannover eine Ausbildung zur Groß- und Außenhandelskauffrau. Mit Anfang 20 zog sie an die Flensburger Förde und ließ sich im St.-Franziskus-Hospital zur Krankenschwester umschulen. 2006 wechselte sie in die Diakonissenanstalt in Flensburg, wo sie seit 2010 Gruppenleiterin in der Zentralen Notaufnahme ist. Seit 2004 ist sie freiwillige Seenotretterin auf der Station Gelting. Sie ist die erste Frau in der Geschichte der 1865 gegründeten Gesellschaft, die je auf einer Vormannstagung war.

Mayday – das Hörbuch der Seenotretter.

 

MAYDAY gibt es auch als Hörbuch. Meisterhaft eingelesen vom Schauspieler Till Demtrøder. Überall im Handel und hier im Onlineshop erhältlich.

 

 

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