Stefans Geschichten vom Meer: das Wunder vom Ärmelkanal
Mit dem Begriff „Wunder“, der so gerne benutzt wird in unserer Zeit, sollte man vorsichtig sein. Doch was sich nun auf dem Ärmelkanal ereignete, das ist genau das: ein Wunder.
Ein Herbstvormittag über dem Ärmelkanal, der Kutter „De Madelaine“ aus dem niederländischen Fischerdorf Urk läuft durch unruhige See Richtung Frankreich. Die Fischer wollten eigentlich in der Gegend arbeiten, doch die ersten Versuche waren enttäuschend gewesen. Nun wollen es die Männer an einem anderen Fangplatz probieren.
Skipper Teunis de Boer greift nach seinem Fernglas. Da war doch irgendetwas im Wasser? Er schaut genau nach – da schwimmt: ein Mann, der winkt! Der wild mit den Armen rudert.
De Boer gibt Alarm und steuert seinen Kutter vorsichtig an die Boje heran. Die Crew wirft einen Rettungsring aus, und mit letzter Kraft gelingt es dem Schiffbrüchigen, sich daran festzuhalten. Die Fischer ziehen ihn an Bord. Sie können es kaum glauben.
Das Wunder vom Ärmelkanal
Was sich in dieser Woche zutrug auf dem Ärmelkanal, einer der meistbefahrenen Wasserstraßen der Welt, ist ein – man sollte mit dem Wort vorsichtig sein, aber in diesem Fall trifft es wohl zu – Wunder. Der Mann, den die Fischer retteten, ist 28 Jahre alt, ein Brite, der versucht hatte, mit einem Kajak den Ärmelkanal zu queren. Immer wieder warnen die Behörden vor solchen Abenteuern, doch immer wieder werden diese Appelle ignoriert.
Von Dover aus war der junge Engländer gestartet. Als das kleine Boot dann in den Wellen kenterte, schwamm er auf die Boje zu und klammerte sich daran fest. Mehr als 48 Stunden harrte er in der kalten See aus. Seine Augen liegen tief in den Höhlen, als ihn die Fischer aufpeppeln. Sie stecken ihn in wärmende Decken, geben ihm Snickers-Riegel und Wasser, er trinkt viel Wasser.
Küstenwache schickt Helikopter
Seine Körpertemperatur beträgt noch 26 Grad. Eine Unterkühlung, die tödlich sein kann. Er berichtet, dass er Muscheln von der Boje pulte und Seetang aß. So überlebte er. Mehr als ein Wispern bringt er nicht mehr heraus. Immer wieder formt er mit den Fingern Herzen, um die Dankbarkeit für seine Rettung auszudrücken. Eine halbe Stunde später, und er hätte sein Leben nicht mehr festhalten können.
Kapitän Teunis de Boer alarmiert die französische Küstenwache, die einen Helikopter losschickt. Die Crew des Hubschraubers winscht ihn auf und fliegt ihn ins Krankenhaus von Boulogne-sur-Mer. Der Schiffbrüchige befindet sich, während ich diese Kolumne schreibe, noch immer auf der Intensivstation der Klinik. Sein Zustand hat sich etwas stabilisiert, heißt es, doch sein Allgemeinzustand ist noch immer schlecht.
Was für eine Geschichte von der See.
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Zum Autor: Stefan Kruecken, Jahrgang 1975, leitet mit seiner Frau Julia den von ihnen gegründeten Ankerherz Verlag. Vorher war er Polizeireporter für die Chicago Tribune und arbeitete als Reporter für Zeitschriften wie max, Stern und GQ von Uganda bis Grönland.
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