Stefans Geschichten vom Meer: der Held von Beachy Head

Der Held von Beachy Head. Jede Woche schreibt Ankerherz Verlagsleiter Stefan Kruecken eine Geschichte des Meeres, die als Kolumne in der Hamburger Morgenpost erscheint. In dieser Folge geht es um die schönste Erinnerung in 2019 – an einen vergessenen Helden vom Beachy Head im Süden Englands.

Zwischen Weihnachten und dem Neuen Jahr, wenn alle tief Luft holen, ist die Zeit, Erinnerungen zu sortieren. 2019 spielte meine schönste Geschichte am Meer an der Südküste von England. Am Beachy Head nahe Eastbourne, wo die Kreidefelsen so tief in den Ärmelkanal abfallen wie nirgendwo sonst. Unweit der Steilküste gibt es ein Dorf namens East Dean, mit einem alten Pub, dem „Tiger Inn“. Sir Arthur Conan Doyle, der Autor von Sherlock Holmes, ließ seinen Detektiv hier die Rente genießen.

Ein Weg führt durch einen Wald und über die Hügel, vorbei an einer Menge Schafe, dann steht man auf den Klippen, den „Seven Sisters“. Im Sturm krachen die Wellen unten an die Felsen. Wenn es Nacht wird, sieht man, wie im oberen Stockwerk des Belle Tout Leuchtturms das Licht angeht. Er wirft heute kein Feuer mehr über das Meer, sondern beherbergt ein Bed&Breakfast. Als sei das alles nicht kitschig genug, steht nicht weit entfernt das „Beachy Head Lighthouse“ in den Wellen, ein Postkartenmotiv in rot und weiß.

Der Held vom Beachy Head

Es gibt eine Menge Mythen und Legenden an dieser Küste, von Schmugglern und gestrandeten Schiffen, und es ist herrlich, sie abends bei einem Pint am Tresen des „Tiger Inn“ zu lesen. Zum Beispiel die von Jonathan Darby, einem Pfarrer, der 1706 die Gemeinde East Dean übernahm. Er machte sich Sorgen wegen der zahlreichen Havarien vor der Küste. Als ein großer Schoner sank und die Wellen viele ertrunkene Seeleute an die Küste spülten, beschloss er, zu handeln.

Mit eigenen Händen grub er ein Tunnelsystem in die Klippen. Er fand eine Höhle, etwa sieben Meter oberhalb der Flutlinie, vergrößerte sie und machte es sich darin bequem. Zog fortan ein Sturm auf, verließ Pfarrer Darby sein Haus im Dorf und kletterte in diese Höhle, um ein großes Feuer zu entzünden. Man sagt, dass das Licht tausenden Seeleuten das Leben rettete.

So gemütlich im Tiger Inn

Geriet ein Schiff trotz der Warnung den Klippen zu nahe und strandete auf den scharfen Felsen, war Pfarrer Darby zur Stelle. In einem Fall zog er 23 Seeleute in die Höhle; einmal sollen 12 Matrosen und die Offiziere direkt vom Bugspier einer havarierten Brigg in die Höhle geklettert sein. Der Zufluchtsort ging als „Parson Darby´s Hole“ ins kollektive Gedächtnis der Menschen an der Küste ein.

Nach dem Tode des Pfarrers fand die Höhle anderweitige Nutzung. Schmuggler deponierten darin ihre Güter. Der Pub „Tiger Inn“, an dessen Kamin ich die Geschichte las, soll eine wichtige Rolle bei vielen Operationen gespielt haben. Wegen der natürlichen Erosion verschwand die Höhle, doch Pfarrer Darby ist unvergessen. Auf seinem Grabstein neben der Kirche von Friston steht: „Er war ein Freund der Seeleute.“

 

Das Kleine Buch vom Meer: Inseln. Neu bei Ankerherz.

Stefan Kruecken, Jahrgang 1975, leitet mit seiner Frau Julia den von ihnen gegründeten Ankerherz Verlag. Vorher war er Polizeireporter für die Chicago Tribune und arbeitete als Reporter für Zeitschriften wie max, Stern und GQ von Uganda bis Grönland. Gerade erschien sein neues Buch: „Das kleine Buch vom Meer: Inseln.“

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