Stefans Geschichten vom Meer: Sollen im Ärmelkanal Menschen ertrinken?

Sollen im Ärmelkanal Menschen einfach ertrinken? In dieser Folge von Stefans Geschichten vom Meer geht um Großbritanniens Umgang mit Hilfesuchenden und eine Frage des Anstands.

Die Nachricht ist sachlich verpackt, auf den ersten Blick zumindest. „Seit dem Brexit geht Großbritannien stärker gegen illegale Migration vor“, berichtet ZEIT online. Patrouillen sollen Boote mit Migranten künftig im Ärmelkanal zurückweisen und nicht mehr auf die Insel bringen. Diese Weisung gab die britische Innenministerin an die Grenzschutzbehörden aus.

Im Beitrag stehen Zahlen: 8400 Menschen kamen 2020 über die Meerenge von Frankreich illegal nach England, in diesem Jahr sollen es bereits mehr als 13.000 sein. Für rechtsdrehende Medien auf der Insel 13000 willkommene Anlässe, die Leserschaft auf einem gewünschten Wutpegel zu halten, der von ganz anderen Problemen ablenkt. Für Premierminister Boris Johnson, diesen teigigen Mix aus Donald Trump und Mr. Bean, war der Grenzschutz ein Hauptargument seiner Brexit-Kampagne.

Illegale Einwanderung über den Ärmelkanal

Illegale Einwanderung ist ein ernstes Problem und nicht hinzunehmen. Wie kann es sein, dass mitten in Europa Schlepperbanden in diesem Ausmaß operieren? Dieses Versagen der Sicherheitsbehörden empfinde ich als Skandal. Dass dieses Problem endlich gelöst werden muss, steht außer Frage.

Doch aus hilfesuchenden, verzweifelten Menschen Nummern zu machen, die man im Zweifel im Ärmelkanal ertrinken lässt, das ist schlicht verachtenswert. Nichts anderes bedeutet es, wenn so sachlich vom „Zurückdrängen der Boote“ berichtet wird. Denn was meint die Umschreibung konkret?

Welche Verantwortung für Grenzschützer

Wir reden über kleine Schlauchboote, die in der Regel überladen und kaum seetüchtig sind. Wir reden über Frauen, Kinder, Säuglinge an Bord. Unter den Geretteten, die beispielsweise am Sonntag in Dover an Land gingen, waren vier Kleinkinder, ein Baby und eine Schwangere.

Welche Verantwortung überträgt man den Grenzschutzbeamten draußen auf See? Man macht sie zu Entscheider über Leben und Tod. Ist die kalte See nur leicht bewegt, verlieren die Migranten die Nerven, kentert ein Schlauchboot – dann werden aus Grenzschutzbeamten Todesengel.

Die Perspektive vom Schreibtisch

Aus der Perspektive eines Schreibtischs mag das gut klingen: „Zurückdrängen der Boote“ oder „jede mögliche Taktik einsetzen“, wie Johnson es nennt. Wohin denn zurückdrängen? Welche „Taktik“? Ein solches Verhalten ist nicht nur ethisch verwerflich, sondern auch juristisch fragwürdig. Das Seerecht gibt präzise vor, wie mit Hilfesuchenden in Seenot umzugehen ist. Obendrein können britische Behörden illegal eingereiste Asylbewerberinnen nicht mehr einfach an EU-Länder zurückschicken.

Was wir hier erleben, ist die nächste Stufe der Entmenschlichung von Migranten. In Europa, im Jahr 2021. Es ist abscheulich, und so muss es benannt werden.

Stefan Kruecken, Jahrgang 1975, leitet mit seiner Frau Julia den von ihnen gegründeten Ankerherz Verlag. Vorher war er Polizeireporter für die Chicago Tribune und arbeitete als Reporter für Zeitschriften wie max, Stern und GQ von Uganda bis Grönland. Sein aktuelles Buch ist das „Kleine Buch vom Meer: Inseln“.

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