Warum alte Seeleute angeblich nicht schwimmen können

Historisches Foto Schiffscrew

Warum alte Seeleute (angeblich) nicht schwimmen können. Jede Woche schreibt Ankerherz Verlagsleiter Stefan Kruecken eine Geschichte vom Meer. Diesmal geht es um eine Frage: Warum können alte Seeleute eigentlich nicht schwimmen?

Zu den mehr als hundert Kapitänen, mit denen ich im Laufe der Jahre unterhielt und deren Abenteuer auf See ich aufschreiben durfte, gehört Richard Neu. Er fuhr jahrzehntelang zur See und arbeitete sich von einem armen Bauernhof in Litauen, aus einem Dorf, in dem wir „wie im Mittelalter“ (Neu) lebten, auf die Brücke eines hochmodernen Trawlers.

Der Seemann erzählte mir eine Story, in der er, damals Sicherheitsoffizier, einen neuartigen Überlebensanzug im Nordatlantik testete. Weil die Crew im Begleitboot ihn wegen eines Notfalls verließ und zum Schiff zurückfuhr – maximal dämlich und verantwortungslos – trieb Neu zu seinem Entsetzen alleine in den Wellen. Wind kam auf, Schneetreiben setzte ein und Möwen griffen ihn an. Sie zielten immer wieder auf seine Augen. Neu überlebte stark unterkühlt und nur knapp (er wurde in letzter Sekunde von der Crew wieder gefunden).

Fischer als Nichtschwimmer

Was mir der alte Kapitän erzählte, änderte für immer meinen Blick auf Möwen. Und dann war da noch etwas, was mich wirklich erstaunte: „Ich kann nicht schwimmen“, erklärte mir der Seemann.

Wie bitte?  

„Schwimmen ist nicht nötig, wenn man auf einem Hochseetrawler arbeitet“, sagte der Kapitän „alter Schule“. Seine Logik: Wer in schwerer See „in den Bach fällt“, wie Fischer das nennen, oder wer an Bord ist, wenn ein Schiff im kalten Nordatlantik sinkt, ist als Nichtschwimmer besser dran. Wenn es ohnehin keine Aussicht auf Rettung gibt, geht das Ertrinken schneller vorbei.

Das Gerücht, dass Seeleute nicht schwimmen können, hält sich hartnäckig. Doch stimmt das denn auch? Untersuchungen dazu gibt es nicht. Doch wenn man davon ausgeht, dass Seeleute einen Querschnitt der Bevölkerung stellen, ist davon auszugehen, dass heute die meisten Seeleute schwimmen können. In früheren Zeiten aber sah das ganz anders aus.

Die üble Rolle der Press Gangs

Die See war ein Gegner und kein Ort, an dem man seine Freizeit verbrachte. Die See brachte Küstenbewohnern gerade in den stürmischen Monaten Tod und Verderben, und die Idee, sich an den Strand zu legen und in den Wellen Schwimmen zu gehen, wäre im 18ten Jahrhundert niemandem in den Sinn gekommen.

Hinzu kam, dass zu jener Zeit die Crews der großen Segelschiffe häufig durch „Press Gangs“ rekrutiert wurden. Viele Männer wurden benötigt, um die großen Segler zu fahren. Wie der Name „Press Gang“ schon andeutet, war man mit den Methoden wenig zimperlich; Männer im Alter zwischen 18 und Mitte 50 konnten für Jahre zur Arbeit an Bord gezwungen werden. Ein Ölgemälde von Luke Clenell aus dieser Zeit illustriert das Leid für die Männer und ihre Familien. Es handelte sich um eine Art staatliches Kidnapping für die Seefahrt.

Traurige Zahlen der DLRG

Ein Beispiel: Historiker gehen davon aus, dass mehr als die Hälfte der 120.000 britischen Seeleute, die zur Zeit der Schlacht von Trafalgar auf Schiffen ihrer Majestät den Dienst verrichteten, von „Press Gangs“ rekrutiert worden waren. Diese Männer konnten nicht schwimmen, als sie an Bord gingen – und im Dienst lernten sie es bestimmt nicht. Auf See war es zu gefährlich und in Häfen hatten sie andere Dinge zu tun.

In diesem Sommer häufen sich die Meldungen von Ertrunkenen an der See und auch in Binnengewässern. Was die DLRG zum Thema vermeldet, ist Grund zur Sorge: Der Anteil der Nichtschwimmer und unsicheren Schwimmer in der Bevölkerung beläuft sich – und dies ist kein Tippfehler: auf 52 Prozent. Mehr als die Hälfte der Menschen in Deutschland kann nicht oder nur schlecht schwimmen!

Besonders Kinder und Jugendliche sind gefährdet, was dran liegt, dass immer mehr Bäder in Deutschland schließen. Knapp ein Viertel der Grundschulen bietet keinen Schwimmunterricht mehr an und Verbände wie die DLRG verzeichnen lange Wartelisten. Insgesamt 417 Menschen ertranken im vergangenen Jahr in Deutschland.

Was für eine traurige Zahl.

Stefan Kruecken, Jahrgang 1975, leitet mit seiner Frau Julia den von ihnen gegründeten Ankerherz Verlag. Vorher war er Polizeireporter für die Chicago Tribune und arbeitete als Reporter für Zeitschriften wie max, Stern und GQ von Uganda bis Grönland. Vor kurzem erschien sein neues Buch „Kapitäne!“

 

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