Wie konnte man dieses Flüchtlingsboot nur fahren lassen?

Wie konnte man dieses Flüchtlingsboot nur fahren lassen? Das ist die Frage, die sich nicht nur Stefan von Ankerherz stellt. Zur Rolle der griechischen Küstenwache beim tragischen Untergang gibt es jede Menge Kritik… (Foto: Hellenic Coast Guard). 

Die Luftaufnahme der griechischen Küstenwache zeigt das Flüchtlingsboot, ein schmuddeliges Fischerboot, das völlig überladen ist. Menschen drängeln sich auf den Decks. Einige winken dem Piloten zu. Niemand trägt eine Rettungsweste. Wie es im Inneren des Seelenverkäufers aussieht, kann man nur erahnen.

Man sieht dieses Foto und denkt sofort: Wie um alles in der Welt kann eine Küstenwache dieses Flüchtlingsboot weiterfahren lassen?

Mehr als 500 Tote werden befürchtet

78 Leichen sind gefunden worden zum Zeitpunkt, als ich diese Kolumne schreibe. 104 Männer wurden gerettet. Nur Männer haben anscheinend überlebt. Keine Frau. Kein Kind. Sie berichten Reportern der BBC von knapp hundert Kindern, die sich im Schiffsinneren befunden haben sollen.

Unter den Geretteten sollen neun Schlepper sein, die das Schiff in Ägypten starteten und in Libyen einen Zwischenstopp einlegten, um weitere Flüchtlinge an Bord zu nehmen.

Wie viele Menschen sind gestorben? Vierhundert? Sechshundert? Noch mehr? Wie mögen ihre letzten Stunden ausgesehen haben, zusammengepfercht in der Hitze und Dunkelheit unter Deck. Mit dieser Angst, dem Gestank, den Schreien. Es ist bekannt, dass manche Schleuser ihre Passagiere einschließen, um sie besser unter Kontrolle zu haben.

Auf Grund am tiefsten Punkt des Mittelmeers

Das Boot kenterte 50 Seemeilen südwestlich der Halbinsel Peloponnes nach einem Maschinenschaden. Ein anderes Schiff soll sich genähert und die Crew Wasser übergeben haben. An Bord brachen deshalb angeblich Kämpfe aus, die das Boot nach 15 Minuten kentern ließen.

Dazu hätte es nicht kommen müssen.

Stundenlang war bekannt, dass dieses überladene Schiff unterwegs war. Ein Pilot der Grenzschutzorganisation Frontex hatte das Flüchtlingsboot gesichtet. Andere Schiffe boten Hilfe an. Die Coast Guard rechtfertigt sich, in dem sie sagt, dass der „Kapitän“ des Schiffes Italien als Ziel angab. Seit wann hat ein Schlepper – also ein niederträchtiger Krimineller – das Recht, eine solche Ansage zu machen?

Staatstrauer in Griechenland

Der Fall ist zu erschütternd, um ihn einfach 5000 Meter tief auf dem Grund des Calypsotiefs ruhen zu lassen, der tiefsten Stelle des Mittelmeers, wo das Schiff nun liegt. „Welches Protokoll verlangt nicht die Rettung eines überladenen Bootes kurz vor dem Untergang?“, sagte Ex-Ministerpräsident Alexis Tsipras bei einem Besuch im Hafen.

Ich habe auch Fragen: Hat womöglich jemand weit oben in der Befehlskette angeordnet, das Boot weiter fahren zu lassen? Und warum? Weil man nicht so viele Flüchtlinge im Hafen aufnehmen wollte? Es wird eine Untersuchung geben.

Das Land steht unter Schock und hat Staatstrauer angeordnet. Der Wahlkampf wurde ausgesetzt und in Athen und Thessaloniki demonstrierten Tausende, um besseren Schutz für Flüchtlinge zu fordern. Und wegen, nennen wir es doch, was es ist: unterlassender staatlicher Hilfeleistung auf See.

Stefan Kruecken, Verlagsleiter von Ankerherz. Foto: Ankerherz

 

Stefan Kruecken, Jahrgang 1975, leitet mit seiner Frau Julia den von ihnen gegründeten Ankerherz Verlag. Vorher war er Polizeireporter für die Chicago Tribune und arbeitete als Reporter für Zeitschriften wie max, Stern und GQ von Uganda bis Grönland. Gerade erschien sein neues Buch: „Muss das Boot abkönnen“.

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