Zum Kriegsende eine Erinnerung von Kapitän Schwandt

Am 8. Mai 1945 kapitulierte das „Dritte Reich“. Der Zweite Weltkrieg war vorbei. 75 Jahre später sitzt im wieder eine Partei im Deutschen Bundestag, deren Vertreter den Nationalsozialismus verharmlosen.  Zum Gedenken an das Kriegsende hier ein Auszug aus der Biographie „Sturmwarnung“ von Kapitän Jürgen Schwandt. Das Kapitel heißt Trümmerland.

Meine Geschichte beginnt in den Trümmern von Hamburg, im Arbeiterviertel Sankt Georg, und der Grund, warum ich zur See wollte, lag dort unter den Bergen aus Schutt begraben.

Es war 1950, und ich hielt es nicht mehr aus in dieser zerstörten Stadt. Ich träumte vom Leben auf dem Meer, von der Ferne, von feinen Stränden und Städten mit exotischen Namen: Caracas. Hongkong, Rio de Janeiro, je weiter weg, desto besser. Ich lebte in meinen Träumen. Selbst heute,siebenJahrzehnte später, fällt es mir schwer, über die frühe Zeit meines Lebens zu sprechen. Es kommt so vieles wieder hoch, was ich sorgsam weggeschoben hatte, es ist so ein Gefühl, als suche man in sich selbst nach einem bösen Geist. Ich spürte eine Ablehnung gegen mein Elternhaus, besonders gegen meinen Vater, einen überzeugten Nationalsozialisten. Ich wollte mit all dem nichts zu tun haben. Ich wollte ein anderes Leben.

Ich wollte raus. Ich wollte weg

In meinen ersten Erinnerungen fallenBomben, heulen die Sirenen und sind dumpfe Schläge von Explosionen zu hören, 1942. Wir lagen im Luftschutzkeller, in Betten aus Eisen, doppelstockig, ohne Matratzen, es krachte und dröhnte, die Wände wackelten und wir konnten im Schein der Kerzen sehen, dass es von der Decke rieselte. Wir Kinder trugen einen kleinen Rucksack bei uns, darin: Ausweispapiere, Notproviant, etwas Wäsche. In manchen Nächten rannten wir ein halbes Dutzend mal die Treppen in den Keller hinunter, wo es so muffig roch, feucht, wie alte Keller eben riechen.

 

Für den Fall, dass wir verschüttet wurden, lagen Spitzhacken und Schaufeln bereit, damit wir uns selbst ausgraben konnten. In einer Ecke standen Eimer mit Wasser und Feuerpatschen, für den Fall eines Brandes, aber dieser Schutz war eher symbolisch. Eingeschlossen zu sein, wenn Feuer ausbricht, hätte vermutlich das Ende bedeutet. Über solche Dinge macht man sich als Kind keine Gedanken: Angst spürte ich nicht, wenn die Sirenen heulten, auch dann nicht, als eine Bombe ganz in der Nähe einschlug. Ich war naiv, ein kleiner Junge.

Späte Alpträume

Die Furcht kam, als ich die Gesichter der Erwachsenen blickte, in denen ich Angst vor dem Tod erkannte und die mir wie verzerrt erschienen. Das langgezogene Heulen der Sirenen hat mich mein Leben lang begleitet. Gab es igendwo einen Alarm oder mittags um 12 Uhr einen Probealarm der Feuerwehren, lief ein eiskaltes, beklemmendes Gefühl durch meinen Körper. Ich rannte im Geiste in den Keller, mit meinem kleinen Rucksack, durch das Treppenhaus mit den Milchglasfenstern. Dann sah ich wieder die brennenden Häuser der Nachbarschaft, durch die Milchglasscheiben im Treppenhaus. Ich roch das Feuer in diesen Nächten, in denen der Himmel orangefarben schimmerte. Erst mit meinem fünfzigsten Lebensjahr ließen diese quälenden Gedanken nach.

Ende 1943 evakuierte man uns. Wir kamen zuerst in den Wiener Wald, danach auf ein Dorf in Bayern, Wildbach, der nächstgrößere Ort ist Deggendorf. Es war Winter, und ich erinnere mich daran, dass wir die Schule nicht besuchen konnten, weil der Schnee hoch lag und wir die fünf Kilometer Fußmarsch nicht schafften. Untergebracht waren wir in einem ehemaligen Erholungsheim der Nazi-Organisation Kraft durch Freude (KdF), mitten im Wald. Das Dorf war einige Kilometer entfernt, und wir Kinder machten uns einen Spaß daraus, auf die Leiter des Postbusses zu springen. Es waren idyllische Monate, trotz des Krieges. Dass die Welt brannte, bekamen wir in Wildbach nicht mit.

Frieden, ländliche Ruhe, Abgeschiedenheit. Für uns Kinder war es ein langer Abenteuerurlaub. Wir jagten Kühe über die Wiesen, zogen mit der Schleuder los, und für uns war kein Baum, auf den wir klettern konnten, zu hoch. Auf den Feldern mussten wir nicht mithelfen – wir waren noch zu klein für harte, körperliche Arbeit.

Die Schatten im Himmel

Nur, wer genau hinsah, erkannte die Schatten am Himmel. Wenn Bomber über das Dorf flogen, weit oben, die für uns aber nie eine Gefahr darstellten, denn die Gemeinde war viel zu klein und ohne jede industrielle Anlage, um ein lohnendes Ziel abzugeben. Im Dorf lebten keine Männer, nur die Alten und die ganz jungen waren geblieben, der Rest kämpfte an der Front. Ein Jahr währte dieses Leben auf dem bayrischen Land – dann holte meine Mutter meinen Bruder Jochen, meine Schwester Barbara und mich die Realität des Krieges wieder ein.

Mein Vater wurde 1944 an der Ostfront verwundet. Man verlegte ihn in ein Lazarett in Bernburg an der Saale. Er holte seine Familie nach. Meine Mutter, wurde während eines Heimaturlaubs wieder schwanger. Mein jüngster Bruder, er hieß Christian, starb im Alter von sechs Monaten. Ernährungsstörung, sagten die Ärzte. Ich erinnere mich schemenhaft an einen kleinen, weißen Sarg, vor dem wir auf dem Friedhof standen. Unser Wohnung, fünf Zimmer, befand sich in der Adolf-Hitler-Straße. Die Privilegien meines Vaters, hochrangiges Partei-Mitglied und Major der Infantrie, hatten Bestand, obwohl die Versorgungslage schon spürbar schlechter wurde.

 

Dienstmägde und Kindermädchen halfen meiner Mutter im Alltag. Mein Vater war bereits 1933 in die NSDAP eingetreten und ein Kriegsheld im Sinne der NS-Propaganda. Er befehligt Voraustrupps bei besonders gefährlichen Kommandos, wenn es darum ging, das Gelände für nachrückende Truppen zu erkunden. Kontakt mit dem Feind war immer zu erwarten. Er hatte an der Ostfront gedient, auf der Krim, war bei der Belagerung und dem Beschuss von Sewastopol dabei gewesen. Zuerst erlitt er einen Unterarmdurchschuss, kehrte an die Front zurück, wurde wieder verwundet. Man zeichnete ihm mit dem Eisernen Kreuz Erster Klasse und der Nahkampfspange aus. Mir haben diese Auszeichnungen nie etwas bedeutet.

Mein Vater, der Nationalsozialist

Nach Kriegsende habe ich meinen Vater oft mit seiner Gesinnung konfrontiert. Er blieb auch nach Ende des Weltbrandes bei seiner Anschauung, und das machte mich wütend und ließ mich verzeifeln. Zu den Dingen, die ich von meinem ersten, selbstverdienten Geld kaufte, gehörte das Buch „Der gelbe Stern“. Ich verdiente 50 Pfenninge in der Stunde, und es brauchte Wochen, bis ich das Geld zusammengespart hatte, doch es war mir wichtig. Ich zeigte das Buch meinem Vater. Die Bilder aus den Konzentrationslagern, die Berge von Leichen, die den zu Skeletten abgemagerten Überlebenden.

Ich wollte Erklärungen, ich wollte Antworten von ihm. Wieso hatte er mitmachen können? Wieso hatte er nichts gewusst? Und warumblieb er trotzdem bei seiner Meinung? Wie konnte all dies sein?

„Das sind gestellte Bilder“, erklärte er schroff. „Das ist Propaganda der Alliierten“.

Er wollte nicht wahrhaben, dass er für die verkehrte Sache gekämpft hatte. Er leugnete die Realität, er tat so, als habe sie es nie gegeben. Mit seiner Ignoranz nahmen auch meine Enttäuschung und meine Wut zu. Unsere Auseinandersetzungen wurden immer härter, bis es schließlich fast zu körperlichen Konflikten kam. Mir wollte und will bis heute auch nicht einleuchten, dass die Zivilbevölkerung nichts wusste. Wenn die Nachbarn abgeholt wurden, wenn wieder eine Wohnung leerwurde, wenn Arbeitskollegen einfach verschwanden. Das ist der Vorwurf, den ich der Generation meines Vaters mache. Alles wurde verdrängt, wenig aufgearbeitet.

Rückkehr ins zerstörte Hamburg

1945 nahmen amerikanische Truppen Bernburg ein, die Straßenkämpfe dauerten tagelang. Wir verbrachten die Zeitim Keller, versteckt hinter Sandsäcken, hörten die Schüsse und hofften, dass es bald vorbei sein möge. Mein Vater war in die Normandie abkommandiert worden, wo er gegen die anrückenden Truppen der Alliierten kämpfen sollte. Er geriet in Gefangenschaft. Der Krieg war bereits verloren – auf dem Markplatz in der Innenstadt parkten amerikanische Panzer.

„Grüßt bloß nicht die Soldaten. Das sind unsere Feinde!“, zischte meine Mutter, wenn wir an ihnen vorbei gingen.

 

Als Gattin eines ranghohen Nazis verhaftete man sie und nahm sie mit zu Verhören in den Zwinger des Berneburger Schlosses. Sie war tagelang verschwunden, und wir Kinder waren froh, dass sich unsere Tante Elsa aus Hamburg um uns kümmerte. Sie arbeitete als Buchhalterin in einer Margarinefabrik, die einen Laster geschickt hatte, um Angehörige aufzunehmen, bevor die Amerikaner den Sektor an die vorrückenden Russen übergaben.

Das Überleben nach Kriegsende

Genaue Erinnerungen habe ich nicht mehr, aber in meinem Gedächtnis gibt es eine Szene, als wir Kinder mit meiner Tante am Schloss vorbei kamen und uns Mutter aus ihrer Zelle zuwinkte. Der Laster, mit dem wir nach Norden rumpelten, war komplett überladen; ich schätze, dass mehr als dreißig Personen auf der Pritsche mitfuhren. Die Fahrt dauerte sechs Stunden. Vor den Elbbrücken nahmen wir einen Kriegsheimkehrer auf, einen verlotterten, abgemagerten Mann in einer schmutzigen Uniform. Englische Posten wollten verhindern, dass zu viele Menschen nach Hamburg zurückkehrten, denn die Versorgungslage in der Großstadt war ohnehin schon extrem schwierig. Der Soldat bat den Fahrer, er flehte ihn geradezu an, und wir versteckten ihn unter den Matratzen, auf denen wir hockten. Er schaffte es mit uns in die Stadt.

Das Haus, in dem sich unsere Familienwohnung befand, war ausgebombt worden. Wir fanden bei meiner Großmutter in einer Altbauwohnung hinter dem Hauptbahnhof Unterschlupf, in der Woltmannstraße. Meine Oma lebte dort mit zwei meiner Tanten, und als meine Mutter wenig später aus der Haft entlassen wurde, hausten wir mit sieben Personen in einem Zimmer mit Kohleofen. Ich teilte mir mit meinem jüngeren Bruder die unbeheizbare Besenkammer. Ein Badezimmer gab es nicht. Wir wuschen uns mit kaltem Wasser über dem Ausguss in der Küche. Dabei hatten wir großes Glück gehabt: Ringsherum ragten nur Trümmer in den Himmel, Gerippe aus Stein, Schutthaufen, Berge aus Geröll, so weit das Auge reichte. In unserer Straße standen nach Kriegsende nur noch drei Häuser.

Nun begann ein Überlebenskampf um Nahrung, Wasser und Wärme, der knapp drei Jahre dauern sollte.

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