ANKERSCHMERZ, Straßenblog: Die Frau im Rollstuhl
Die Kolumne von den Straßen der Großstadt: Jeden Samstag erscheint „Auf den Straßen von Hamburg“, die Kolumne von Dominik Bloh, in der Hamburger Morgenpost. Und natürlich auch hier in seinem Blog „Ankerschmerz“. Diesmal geht es um eine Zufallsbegegnung – und ein Zeichen der Menschlichkeit. Die Frau im Rollstuhl.
Ein verregneter Sonntag, so richtig gemütlich zum Liegenbleiben. Am Nachmittag habe ich allerdings noch ein Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Vor dem Interview gehen wir in meine Lieblingspizzeria, keine hundert Meter von den Palmen im Park Fiction auf Sankt Pauli entfernt. Während die Pizza in den Ofen geschoben wird, gehe ich noch raus eine rauchen. Mein Feuerzeug geht nicht an. Ich schaue mich nach anderen Menschen um, von denen ich womöglich Feuer kriegen könnte. Da sehe ich eine Frau, die aussieht wie ein begossener Pudel.
„Brauchst du Feuer?“, fragt sie. „Dann komm her!“ Sie sitzt im Rollstuhl. Ich komme näher. Ein Fuß fehlt. Der andere schaut barfuß aus dem schwarzen Hosenbein heraus.
Die Frau im Rollstuhl weint
Zum ersten Mal nehme ich ihr Schluchzen und Weinen richtig wahr.„Was ist denn los?“, frage ich. „Kann ich dir auch irgendwie helfen?“
Es ist seltsam, wie lange es dauern kann, bis man etwas völlig Offensichtliches klar erkennen kann. Sie ist total durchnässt, genauso wie der Schlafsack, der aus der Tasche guckt, die an ihrem Sitz hängt. Sie erzählt mir, wie sie eingeschlafen ist, auf derselben Pritsche, auf der ich schon gelegen habe. Keiner hat sie geweckt.
Ich bin in der Hocke, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein. Da sehe ich hinter dem Rollstuhl ein kleines Wollknäuel, das noch mehr wie ein begossener Pudel aussieht. Ein nasses welliges Fell. Kleine Knopfaugen. „Das ist Minka.“ Ihre Stimme wird ganz liebevoll und weich. Ein kleines Lächeln.
Ich kann gut verstehen, was sie meint
„Minka“, sage ich, „mein Name ist Dominik“. Daraufhin stellt sich Angelina vor. Seit 18 Jahren macht sie Platte. Vier Jahre davon ist sie nun mit Minka unterwegs. Man gewöhnt sich an alles, sagt sie, als ich sie auf ihre nackten Füße anspreche. Ich weiß, was sie meint.
Drinnen wartet fertige Pizza und eine Redakteurin auf mich. Ich werde Angelina nicht im Regen stehen lassen. Außerdem würde sie gerne einen Kaffee trinken. Wir rollen in den Laden. Für den Betreiber ist das kein Problem. Er bittet sie herzlich hinein. Wir sitzen mit der Redakteurin in einer Ecke im hinteren Teil, wo es ruhiger ist.
Angelina erzählt aus ihrem Jetzt. Ich berichte aus meiner Vergangenheit. Sie erzählt von ihren Problemen im Rollstuhl. Wie schwer es ist, ihre Sachen zu transportieren. Dass die Leute bei ihr sofort ablehnend sind, weil sie alles, was sie verdrängen möchten, in einer Person sehen. So wie Angelina will keiner sein. Sie wird weitermachen, bis es vorbei ist. „Das Lachen darf man nie verlieren, sonst hat man nichts mehr“, sagte sie. Ich bin beeindruckt. Ich hoffe wir begegnen uns jetzt öfter. Angelina ist eine tolle Frau.
Ich hoffe, sie kriegt noch eine Chance.
Dominik Bloh, Jahrgang 1988, lebte elf Jahre lang immer wieder auf den Straßen von Hamburg. Sein Buch über sein Leben heißt: „Unter Palmen aus Stahl“, und wurde ein SPIEGEL-Bestseller. Überall im Handel und auf hier im Online-Buchladen von Ankerherz.
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