Stefans Geschichten vom Meer: Seeleute funken SOS
Seeleute funken SOS: Die Corona-Pandemie hat die Situation der Seeleute noch einmal verschlechtert. Die EU, die Vereinten Nationen und sogar der Papst appellierten, dass endlich Crew-Wechsel möglich sind. Doch geändert hat sich: nichts. Stefans Geschichte vom Meer ist in dieser Woche ein Appell, endlich etwas zu ändern.
Zu den schönsten Ausflügen, die man in Bremerhaven unternehmen kann, gehört die „Dicke Pötte“-Tour. Knapp zwei Stunden mit der „MS Geestemünde“ entlang der längsten Stromkaje der Welt und vorbei am Kreuzfahrtterminal. Nicht nur Touristen, sondern auch Einheimische sollten sich die „Dicke Pötte“ gönnen. Für ein Gefühl dafür, was im Hafen los ist.
Wenn Sie also das nächste Mal an Deck sitzen, achten Sie auf die Freibordmarke an der Bordwand der Frachter: Ein waagerechter Strich mit Kreis, der markiert, wie weit ein Schiff beladen werden darf. Das sieht aus heutiger Sicht ganz selbstverständlich aus. Natürlich muss doch angezeigt werden, wie weit ein Schiff beladen werden darf, oder? Doch für diese Marke musste früher erbittert gekämpft werden.
Seeleute in einem zynischen Spiel
Von 1861 bis 1870 sanken vor der Küste Großbritanniens 5826 Schiffe und mehr als 8000 Seeleute ertranken. Im Kampf um jeden Penny war den Reedern jedes Mittel Recht. Die Schiffe waren oft in erbärmlichen Zustand, die Crews schlecht ausgebildet und rechtlos – und häufig waren ihre Schiffe heillos überladen. Die Reeder hatten sie bestens versichert. Ob die Schiffe im Zielhafen ankamen oder sanken, war ihnen beinahe egal.
Erst als ein Abgeordneter namens Samuel Plimsoll für das Recht der Seeleute stritt, änderte sich etwas. Es war ein zäher Kampf gegen die Macht der Reeder im Parlament, der endlich zum Erfolg führte. 1890 wurde die Freibordmarke eingeführt und im Laufe der Jahre von allen seefahrenden Nationen übernommen.
Vielleicht braucht es heute wieder einen wie Samuel Plimsoll.
Die Situation der Seeleute verschlechtert sich immer weiter. Sie ist in der Corona-Pandemie so miserabel, dass ein flammendes Plädoyer aus einer Ecke kommt, aus der man es in dieser Härte nicht erwartet: vom Präsidenten des Verbandes Deutscher Reeder (VDR) persönlich.
Verband der Reeder appelliert
„Helft endlich den Seeleuten!“, fordert Alfred Hartmann im Editorial der aktuellen Verbandszeitschrift. Er nennt die Lage auf See einen „Skandal“, die ihm „tiefe Sorge“ bereite und davon, dass es „so nicht weitergehen kann.“ Seit Monaten ist bekannt, dass die meisten Seeleute wegen Corona viel länger an Bord sein müssen, als ihre Arbeitsverträge vorsehen. In extremen Fällen waren die Seeleute seit anderthalb Jahren nicht daheim. Manche Crews werden um die halbe Welt geflogen, dann aber von den lokalen Behörden wochenlang in Hotels oder Seemannsheimen festgehalten.
Die Europäische Union, die Vereinten Nationen und sogar Papst Franziskus schalteten sich schon vor Monaten ein. In dieser Woche kamen die Chefs der Lebensmittelkonzerne Unilever und Procter & Gamble dazu. Doch was änderte das? Nichts. Nach Schätzungen des VDR warten derzeit knapp 300.000 Seeleute darauf, nach Hause zurückkehren zu können. Berichte über Selbstmorde und Suizidversuche an Bord häufen sich. „Wir kennen einen Fall, bei dem ein an Herzinfarkt verstorbener Seemann wochenlang im Kühlraum des Schiffes aufgebahrt werden musste, weil ein Hafen seine Heimführung nicht erlaubte“, schreibt Hartmann. Wie diese Zeit für die Familie des Seemanns und seine Kameraden an Bord gewesen sein muss, mag man sich nicht vorstellen.
Zeit für Veränderungen
Der Chef des Reederverbandes äußert sogar Verständnis, dass manche Gewerkschaften nun härtere Maßnahmen angekündigt haben. Auch wenn dies das falsche Signal sei. Es gehe nur mit „Geschlossenheit“, fordert Hartmann, zwischen Reedern, Gewerkschaften und darüber hinaus.
Eines nämlich muss uns allen klar sein: Die Seeleute sichern unsere Versorgung. Es geht nicht nur um Fernseher und billige Turnschuhe, sondern auch um Lieferungen, die Fabriken am Laufen halten. Was passiert, wenn auch noch der internationale Seetransport ins Stocken gerät? Die Gesundheit der Seeleute alleine sollte Grund genug sein, zu handeln.
Doch es geht längst um mehr.
Stefan Kruecken, Jahrgang 1975, leitet mit seiner Frau Julia den von ihnen gegründeten Ankerherz Verlag. Vorher war er Polizeireporter für die Chicago Tribune und arbeitete als Reporter für Zeitschriften wie max, Stern und GQ von Uganda bis Grönland. Vor kurzem erschien sein neues Buch „Kapitäne!“ Das Buch gibt es überall im Handel und ohne Versandkosten hier bei uns.
0 comments