Seemannsdiakon Sturm: Corona und eine Frage der Perspektive
Corona und eine Frage der Perspektive. Jeden Donnerstag, dem Sonntag der Seeleute, schreibt Fiete Sturm, Seemannsdiakon von Hamburg-Altona, eine Kolumne für den Ankerherz Blog. Diesmal geht es um Corona – und die Frage, wie man mit der Pandemie umgeht, ohne an manchen Mitmenschen zu verzweifeln.
Das Covid-19 Virus ist von einer Tragweite, wie ich sie – und wahrscheinlich viele von euch – in meinem Leben bisher noch nicht erlebt habe. Ich kann mich glücklich schätzen, zufällig jung genug und in einer politisch stabilen Region geboren zu sein. Ich habe nie einen Krieg oder eine vergleichbar drastische Situation erleben müssen. Ich wurde in meinem Leben von Dürren, Überschwemmungen, Gewalt, ja sogar Armut verschont.
Und ich bin mir bewusst, dass ich damit verdammt viel Glück gehabt habe.
Ich denke, ich bin ein leidlich reflektierter Mensch. Und doch erlebe ich immer wieder, dass ich bei aller Empathie und Weitsicht Menschen begegne, bei denen es mir schwerfällt, mich in deren Haut zu versetzen. Bei denen mir die Hintergründe fehlen, um zu verstehen, was sie antreibt und was sie bewegt. Was ihre Ängste auslöst, warum sie sich über (in meinen Augen) Nichtigkeiten freuen oder darüber in Wut geraten.
Corona: Soviel Unfug und Hetze
Und ich habe auch gar nicht den Anspruch, immer alle und jeden verstehen zu können oder zu wollen. Vor allem mit Menschen, die mir aus diversen Gründen gleich unsympathisch sind, möchte ich mich meist nicht auseinandersetzen. Ich würde schier verrückt werden, wenn ich mit jedem Reichsbürger, Coronaleugner, AfD-Wähler, Trump-Unterstützer usw. ins tiefere Gespräch gehen müsste. Im täglichen Leben wird das schon schwer. In den Sozialen Medien halte ich es für schlichtweg unmöglich.
Nichtsdestotrotz versuche ich dann hin und wieder durch Gespräche oder Texte wie diesen, andere Menschen zu erreichen. Denn allein schon in meiner Arbeit in der Seemannsmission wird mir die Gnade zuteil, Menschen von allen Kontinenten und aus den unterschiedlichsten Kulturen zu begegnen. Durch sie wird meine Perspektive, die eines behütet und in Wohlstand und Sicherheit aufgewachsenen Menschen, oft verändert. „Meine Seeleute“ erlauben es mir immer mal wieder, durch ihre Augen zu sehen und die Welt noch mal neu und anders zu verstehen. Dies ist ein Geschenk, dass ich gerne teilen möchte.
So zum Beispiel, wenn es um die aktuellen Corona-Maßnahmen geht. Ich lese in jedem Artikel zu diesem Thema die gleichen Unfug in den Kommentarspalten: „Ist doch nur eine Grippe“, „Es sterben doch nur Vorerkrankte und alte Menschen“, „Die Maßnahmen stehen in keinem Verhältnis zu den Maßnahmen“ oder auch sehr kreativ „die gleichgeschalteten Medien verbreiten im Auftrag der Regierung Angst, um die Bevölkerung besser kontrollieren zu können“.
Der Impuls der Verdrängung
Wenn ich sowas lese, verstehe ich zwar den Wunsch nach Normalität und den Impuls der Verdrängung. Aber ich denke auch, dass solche Aussagen in keinem Verhältnis zur Realität stehen. Wer sowas schreibt, blickt nicht über seinen Tellerrand seiner gut gefüllten Steakplatte hinaus.
Wer mir allen Ernstes erzählt, dass eine Gesichtsmaske seine Grundrechte verletzt, dem halte ich das Beispiel vieler Seeleute entgegen.
Die mittlerweile seit fast 20 Monaten nicht mehr zuhause waren. Die ihre Familien nicht sehen können und – wie neulich schon im Falle eines kiribatischen Seemannes beschrieben – sowohl die Geburt als auch den ersten Geburtstag ihres Kindes verpasst haben. Die in einem Umfeld an Bord arbeiten, in dem eine Infektion schwere Folgen haben kann. Denn bei ungünstigem Verlauf einer Erkrankung dauert es z.T. Tage, bis Seeleute in ein Krankenhaus kommen können.
Dann sehe und lese ich, wie Menschen auf dem Kiez und der Elbmeile ihre Masken nicht aufsetzen. Dass sie trotz Sperrstunde lange Kellerpartys feiern und sich noch beschweren, wenn sie durch Auflagen um ihren Spaß gebracht werden. Diesen Menschen wünsche ich, dass es ihnen mal gelingt, sich vorzustellen, wie schwer diese Pandemie andere Menschen schon getroffen hat. Menschen, die nicht das Glück hatten, in einer behüteten und ruhigen Ecke des Planeten geboren zu sein und/oder einen Job haben, der es ihnen nicht erlaubt in ihrer Heimat zu verweilen.
Denn mal ganz ehrlich: Mit ein wenig Empathie und Solidarität, mit ein bisschen Achtsamkeit und Rücksichtnahme, sollten wir hier in Deutschland eigentlich ganz gut durch diese Krise kommen. Aber dazu bedarf es, meiner Meinung nach, die Fähigkeit sich – zumindest ein bisschen – in die Haut anderer zu versetzen.
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