14. April 1912: Drei Polaroids vom Untergang der Titanic

Der 14. April 1912 war ein Tag, der sich in das Gedächtnis der Welt einbrannte. Der Oceanliner Titanic, ein als unsinkbar geltender Beweis menschlicher Genialität, kollidierte auf dem Nordatlantik mit einem Eisberg. 1514 Menschen ertranken. Drei Polaroids von Begegnungen mit der Titanic.

Auf dem Nordatlantik

Seit Tagen kam der Sturm von vorne, mit Beaufort zehn und mehr, doch die Queen Mary2 schob sich unbeeindruckt durch die Wellen nach Westen. Nach dem Auslaufen aus Hamburg waren wir Southampton angelaufen, und die Wetterkarte des Nordatlantiks sah aus wie eine Zeichnung aus Signalfarben. In einer Nacht maß man Orkanstärke 12.

An diesem Morgen riss die Wolkendecke auf. Sonnenstrahlen auf dem Grau des Nordatlantiks, einer Landschaft aus Wogen und Gischt und so vielen Farbtönen  in Grau und Blau. Die Außendecks, die auf dieser Transatlantikpassage oft aus Sicherheitsgründen gesperrt waren, durften wieder betreten werden. Der Kapitän meldete sich mit einer Durchsage aus den Lautsprechern.

Er gab die Uhrzeit durch und die Position: 41° 43′ 55″ N, 49° 56′ 45″.

Dann sagte der Kapitän:

„Meine Damen und Herren, wir passieren nun die Stelle, auf der die Titanic auf Grund liegt. Ich möchte Sie bitten, der Opfer mit einer Schweigeminute zu gedenken.“

Alles Leben an Bord erstarrte. In den Restaurants blieben die Kellner stehen, die Passagieren, die auf den Deck flanierten, hielten inne, alle Gespräche in den Bars oder der Bibliothek verstummten. Es war eine eigenartige Stimmung an Bord, feierlich und  traurig zugleich. Der Wind pfiff über das Deck und ich sah auf die Wellen.

Von den sechs Tagen, die unsere Reise nach New York dauerte, ist mir dieser Moment besonders in Erinnerung geblieben.

In den Docks von Belfast

Eines der beeindruckendsten Museen, die ich kenne, ist das Titanic Museum in Belfast. Nicht wegen der Größe und der Bedeutung seiner Exponate. Kaum ein Museum aber entführt seine Besucher so intensiv in eine andere Zeit und an einen anderen Ort. Es steht auf dem Gelände der Werft „Harland & Wolff“ , auf der die „Titanic“ gebaut wurde.

Mehr als 10.000 Arbeiter beschäftigte „Harland & Wolff“ um das Jahr 1900, im größten Dock der Welt. Ein Verdienst des Museums ist es, nicht nur diese Superlative und die schönen Bilder in Schwarz und Weiß zu zeigen, sondern auch das Elend der Arbeiter und ihrer Familien. Miserabel bezahlt, schlecht ernährt und ständig in der Gefahr, sich bei der körperlich harten Arbeit schwer zu verletzen, hausten sie in Slums neben dem Werftgelände.

Auf sechs Etagen bietet es eine atemberaubende Reise durch die Geschichte von Belfast, mit Animationen, Bildern und einer Gondelfahrt, bei der man an manchen Stationen sogar die Hitze eines Ofens spüren kann. Eine Computeranimation lässt Besucher in der Maschine, im Restaurant der Ersten Klasse und auf der Brücke der Titanic stehen.

Doch ein Exponat hat sich mir besonders eingeprägt. Es ist eigentlich unscheinbar. Einer der letzten Funksprüche, die vor der Katastrophe ausgingen, um 23:10 Uhr. Es ist die Antwort auf die Warnung eines anderen Schiffes, der California, die vor Eisbergen warnte. Die ganze Hybris und Arroganz in einer Meldung:

 

Der Untergang der Titanic – ein Gedicht

Der Untergang der Titanic hat Regisseure, Autoren und Lyriker inspiriert. Die Kombination aus menschlichem Geist und menschlicher Hybris, die an der Gewalt der Natur scheitert, sorgt für ein Spannungsfeld, das Künstler fasziniert.

Der Dichter und Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger schrieb dieses Gedicht über den Untergang der Titanic.

Einer horcht. Er wartet. Er hält
den Atem an, ganz in der Nähe,
hier. Ersagt: Der da spricht, das bin ich.

Nie wieder, sagt er,
wird es so ruhig sein,
so trocken und warm wie jetzt.

Er hört sich
in seinem rauschenden Kopf.
Es ist niemand da außer dem,

der da sagt: Das muß ich sein.
Ich warte, halte den Atem an,
lausche. Das ferne Geräusch

in den Ohren, diesen Antennen
aus weichem Fleisch, bedeutet nichts.
Es ist nur das Blut,

das in der Ader schlägt.
Ich habe lang gewartet,
mit angehaltenem Atem.

Weißes Rauschen im Kopfhörer
meiner Zeitmaschine.
Stummer kosmischer Lärm.

Kein Klopfzeichen. Kein Hilfeschrei.
Funkstille.
Entweder ist es aus,

sage ich mir, oder es hat
noch nicht angefangen.
Jetzt aber! Jetzt:

Ein Knirschen. Ein Scharren. Ein Riß.
Das ist es. Ein eisiger Fingernagel,
der an der Tür kratzt und stockt.

Etwas reißt.
Eine endlose Segeltuchbahn,
ein schneeweißer Leinwandstreifen,

der erst langsam,
dann rascher und immer rascher
und fauchend entzweireißt.

Das ist der Anfang.
Hört ihr? Hört ihr es nicht?
Haltet euch fest!

Dann wird es wieder still.
Nur in  der Wand klirrt
etwas Dünngeschliffenes nach,

ein kristallenes Zittern,
das schwächer wird
und vergeht.

Das war es.
War es das? Ja,
das muß es gewesen sein.

Das war der Anfang.
Der Anfang vom Ende
ist immer diskret.

Es ist elf Uhr vierzig
an Bord. Die stählerne Haut
unter der Wasserlinie klafft,

zweihundert Meter lang,
aufgeschlitzt
von einem unvorstellbaren Messer.

Das Wasser schießt in die Schotten.
An dem leuchtenden Rumpf
gleitet, dreißig Meter hoch

über dem Meeresspiegel, schwarz
und lautlos der Eisberg vorbei
und bleibt zurück in der Dunkelheit.

 

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